Malevil
froh über seine Idee, daß ich ihn gewähren lasse. Und vom Wall herab sehen wir ihn aufbrechen: sein 36er-Gewehr
am Riemen und seinen riesigen Bogen umgehängt. Meyssonnier zuckt die Achseln, und Thomas ist wütend: Du läßt ihm alles durchgehen,
sagt er vorwurfsvoll.
Ich habe kaum geschlafen, doch wie in der Nacht zuvor, während meiner letzten Wache in der Morgendämmerung, fühle ich mich
auf Meyssonniers Bänkchen hinter der Schießscharte Nummer 4 völlig munter. Der Lauf meiner Springfield ruht auf dem jahrhundertealten
Stein der Zinne und ihr Kolben auf meinem Schenkel. Ist es nicht merkwürdig, daß ich, ein Mensch des 20. Jahrhunderts, hier
oben bin, wo so viele englische oder protestantische Bogenschützen in ihren Panzerhemden auf Posten standen? Wenn Evelyne
nicht neben mir wäre, wenn die Gefährten nicht im Torbau schliefen, würde ich mir nicht solche Mühe geben, unter derart prekären
Bedingungen weiterzuleben. Wie viele Jahre werden wir noch diesen Kampf gegen die Banden, dieses abstumpfende, immer um Sicherheit
besorgte Garnisonsdasein führen müssen?
Evelyne sitzt auf einem Schemel neben mir. Sie lehnt sich mit dem Rücken an meine linke Wade, und ihr Kopf ruht auf meinem
Knie. Ihr Kopf ist so leicht, daß ich ihn kaum spüre. Sie schläft nicht. Von Zeit zu Zeit streichle ich ihr mit der Linken
den Hals und die Wange. Gleich langt ihre kleine Hand nach der meinen. Es ist vereinbart, daß wir kein Wort wechseln.
Ich weiß wohl, meine Beziehungen zu Evelyne schockieren meine Gefährten, selbst wenn sie die Geduld bewundern, mit der ich
sie pflege, körperlich ertüchtige und unterrichte. Wenn ich sie zu meiner Frau machte, würden sie es im Grunde vielleicht
mißbilligen. Aber noch mehr würden sie es verstehen. Freilich habe ich selbst darauf verzichtet, mich zu verstehen. Meine
Beziehungen zu Evelyne sind platonisch und dabei doch nicht frei von sinnlichen Elementen. Ich bin nicht versucht, sie zu
besitzen, und dennoch, ihr kleiner Körper bezaubert mich. Und ihre hellen Augen, und ihr langes Haar. Wenn |471| Evelyne eines Tages ein schönes junges Mädchen wird, werde ich so, wie ich bin, wahrscheinlich nicht widerstehen können. Dennoch,
scheint mir, würde ich viel verlieren. Hundertmal lieber wäre es mir, daß sie bliebe, was sie ist, und daß sich unsere Beziehungen
nicht änderten.
Heute nachmittag fand sie, während ich einen kurzen Mittagsschlaf hielt, in meiner Schreibtischschublade, die sie »auf räumte «, einen kleinen Dolch mit spitzer scharfer Klinge, den mir mein Onkel als Brieföffner geschenkt hatte. Als ich meinen Schlummer
beendet hatte, bat sie mich um diesen Dolch.
»Was willst du damit machen?«
»Das weißt du doch.«
Wirklich, ich weiß es. Und ich möchte es sie nicht wiederholen lassen. Ich nicke mit dem Kopf.
Und sogleich zieht sie eine Schnur durch den Ring der Scheide und befestigt den Dolch an ihrem Gürtel. Am Abend hat ihr ganz
Malevil Komplimente gemacht und über ihren kleinen Degen gescherzt. Und ich selbst fragte sie, ob sie die Absicht habe, Vilmain
damit »über die Klinge springen« zu lassen. Ich tat, als ließe ich mich, wie die übrigen, von ihrem kindlichen Spiel foppen.
Aber ich kenne den Entschluß, der sich hinter diesem Spiel verbirgt.
Die Nacht ist kühl, und ihre Tintenschwärze ist unmerklich einem dämmrigen Grau gewichen. Durch die Schießscharte der Zinne
kann ich nur wenig sehen. Ich bin vor allem »wach sam mit den Ohren«. Das ist eine Redewendung von Meyssonnier, der sie wohl seiner militärischen Ausbildung entlehnt hat. Da die
Vögel tot sind, ist die Morgendämmerung befremdend still. Und selbst Krah schmollt mir. Ich warte. Angreifen wird der kriegerische
Schwachkopf ganz bestimmt. Weil er einmal erklärt hat, er wolle es tun, und nun nicht weiß, wie er es anstellen soll, seine
Entscheidung zurückzunehmen. Und dann auch, weil er blindlings auf die Überlegenheit seiner Technologie vertraut, die durch
eine Panzerfaust alten Modells repräsentiert wird.
Das Ekelerregende an diesem Typ Mensch ist, daß man im voraus wissen kann, wie sein Kopf funktionieren wird: Ich habe die
Panzerfaust, also bestimme ich das Gesetz. Und sein Gesetz besteht darin, uns zu massakrieren. Wir haben ihm zwei »Kerls«
getötet, er wird sich Malevil »vornehmen«.
|472| Gar nichts wird er sich vornehmen. Den ganzen Tag über hatte ich Anwandlungen von Angst, das ist vorüber. Die
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