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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Marschroute
     ist klar. Und abgesehen von einem, sagen wir, restlichen Bodensatz Fiebrigkeit, bin ich ruhigen Mutes. Von Sekunde zu Sekunde
     erwarte ich den Käuzchenruf von Colin.
    Ich erwarte ihn, und als er kommt, bin ich vor Überraschung fast gelähmt. Evelyne muß meine Hand berühren, damit ich mich
     daran erinnere, daß ich sie an die Schulter zu fassen habe. Was ich denn auch tue und was nun ziemlich komisch ausfällt, da
     sie ja weiß, daß ich es tun werde.
    Evelyne verläßt mich und nimmt, damit niemand daranstößt, verabredungsgemäß ihren Schemel mit; ich lasse mich vor dem Bänkchen,
     auf dem ich gesessen habe, auf die Knie nieder, stütze meinen linken Ellbogen darauf und drücke die Wange an den Kolben meines
     Gewehrs. Hinter mir höre und sehe ich die Gefährten an ihre Plätze eilen, denn die Nacht wird von Sekunde zu Sekunde heller.
     Das Ganze vollzieht sich bemerkenswert still und rasch.
    Daraufhin vergeht eine endlose Zeit. Vilmain entschließt sich nicht, das Feuer gegen die Palisade zu eröffnen, und sonderbarerweise
     bin ich heftig verstimmt, weil er so wenig Eifer zeigt, die Rolle zu spielen, die ich ihm in meinem Szenarium zugedacht hatte.
     Es ist mir nicht bewußt, daß ich irgend etwas geäußert hätte, doch Meyssonnier versichert mir später, ich hätte unablässig
     vor mich hin gebrummelt: Um Himmels willen, verdammt, wo bleibt er denn, verdammt, wo bleibt er denn?
    Endlich erfolgt die Detonation, die wir alle erwarten. Und in einer Hinsicht enttäuscht sie uns, denn sie ist lange nicht
     so stark, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie muß auch Vilmain enttäuscht haben, denn die Granate räumt keineswegs die
     ganze Palisade weg, sie hebt nicht einmal die beiden Torflügel aus den Angeln. Sie zertrümmert lediglich das Mittelstück,
     wo sie ein Loch von eineinhalb Meter Durchmesser aufreißt, aber den oberen und den unteren Teil stehenläßt, die beide zersplittert
     sind, aber noch gut zusammenhalten.
    Was passiert jetzt? Ich soll durch einen langgedehnten Pfiff mit der Trillerpfeife das Signal zum Feuern geben. Ich gebe es
     nicht. Und dennoch beginnen wir alle zu schießen, ich einbegriffen, weil vermutlich jeder denkt, der andere habe etwas |473| wahrgenommen. In Wirklichkeit sieht niemand etwas, da es nichts zu sehen gibt. Der Gegner ist nicht an der Bresche.
    Die Aussagen unserer Gefangenen werden darüber Klarheit schaffen: Zu dem Zeitpunkt unserer Schießerei befinden sich Vilmains
     Burschen völlig außerhalb unseres Feuerbereichs, etwa zehn Meter hinter dem schützenden Felsvorsprung. Sie hatten sich gerade
     auf die Bresche in der Palisade zubewegt, als das vorzeitige und völlig ziellose Feuer aus unseren Gewehren sie aufhält. Nicht
     weil es ihnen Schaden zufügt, sondern weil es die Reste der Palisade der Länge nach bestreicht, Splitter davon abreißt und
     – wenigstens was den Schrot aus unseren Jagdflinten anbelangt – unablässig auf das Holz prasselt. Die Angreifer legen sich
     nun hin und verknallen ihr Pulver. Der Felsvorsprung, der uns daran hindert, sie zu treffen, hindert auch sie daran, uns zu
     sehen. So entwickeln die beiden einander gegenüberliegenden Armeen ein höllisches Feuer auf nicht vorhandene Ziele.
    Endlich begreife ich, und Meyssonnier gleichfalls, denn er sagt zu mir: »Wir müssen damit Schluß machen, es ist Blödsinn.«
    Ich bin ganz seiner Meinung, doch um Schluß zu machen, benötige ich meine Trillerpfeife (die von Peyssou), und ich durchwühle
     schweißtriefend alle meine Taschen, ohne sie zu finden. Währenddessen mache ich mir bei aller Angst und Not doch klar, wie
     lächerlich ich bin. Der kommandierende General kann seine Truppen nicht mehr befehligen, weil er seine Trillerpfeife verlegt
     hat! Ich hätte ja brüllen können: »Feuer einstellen!« Sogar Miette und Catie im Torbau hätten mich gehört. Aber nein, in diesem
     Moment erscheint es mir sehr wichtig, alles nach Vorschrift zu tun.
    Endlich finde ich die kostbare Reliquie. Daran ist nichts Geheimnisvolles, sie befindet sich dort, wo ich sie hingesteckt
     habe, in der Brusttasche meines Hemdes. Ich pfeife dreimal kurz, was, im Abstand von einigen Sekunden wiederholt, unsere Flinten
     schließlich zum Schweigen bringt.
    Indessen muß meine Pfeife wohl auch ein Echo in der militärischen Seele Vilmains wachgerufen haben, denn vom Burgwall aus
     höre ich, wie er seine Männer anbrüllt: »Worauf schießt ihr denn, ihr Arschlöcher?«
    Diesem Ausbruch folgt

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