Malevil
man sich darunter vorstellt. Der |63| Abbé Lebas hatte davon keine Ahnung. Und wie sollte er auch, dieser arme alte Unschuldsknabe! Die Fleischeslust ist ein sehr
starkes moralisches Band, da es doch so schmerzt, wenn es zerreißt. Ich bin vom Tisch aufgestanden, habe mich auf mein Bett
gelegt und geifere. Gräßlich. Und wenn ich nachzudenken versuche, verstricke ich mich immer noch mehr in diese Unterscheidung
von Leib und Seele, wo ich doch ganz genau weiß, daß sie falsch ist. Auch der Körper denkt! Er denkt und fühlt ganz außerhalb
jeder Bezugnahme auf die Seele. Nicht, daß ich mich im nachhinein in Birgitta verliebe, o nein, keineswegs! Dieses Mädchen
ist ein Monstrum an Fühllosigkeit. Ich verachte sie innig – wie sie mich umarmt. Doch der Gedanke, ihren hinschmelzenden Leib
niemals mehr in meinen Armen zu halten, drückt mir das Herz ab. Ich sage »das Herz«, wie in den Romanen. Dieses Wort oder
ein anderes. Ich weiß wohl, was ich fühle.
Denke ich heute an meine Betrübnis zurück, erscheint sie mir fast komisch. Ein kleiner Kummer nach Maßen eines kleinen Lebens
und dem, was folgen sollte, lächerlich unangemessen. Denn inmitten dieses winzigen heimlichen Dramas brach unvermutet der
»Tag des Ereignisses« herein und schlug uns mit Entsetzen.
In der Verbrauchergesellschaft ist der Optimismus die Ware, von der die Menschen am meisten verbrauchen. Seit der Planet vollgestopft
war mit allem, was man brauchte, um ihn – und notfalls auch die benachbarten Planeten – zu zerstören, schlief man wieder ruhig.
Sonderbarerweise wurden gerade das Übermaß an Abschreckungswaffen und die zunehmende Anzahl von Nationen, die darüber verfügten,
plötzlich als ein Sicherheitsfaktor angesehen. Aus der Tatsache, daß seit 1945 keine dieser Waffen mehr angewendet worden
war, weissagte man, daß man ihren Einsatz »nicht wagen« und daß nichts geschehen würde. Für die falsche Sicherheit, in der
wir lebten, erfand man sogar einen Namen, um ihr den Anschein einer hohen Strategie zu verleihen. Man nannte sie das »Gleichgewicht
des Schreckens«.
Auch das muß wohl gesagt werden: Nichts, absolut nichts in den Wochen vorher hatte den Tag voraussehen lassen. Wohl hatte
es Kriege, Hungersnöte und Massaker gegeben. Und Greuel hier und da. Manche offenkundig – bei den Unterentwickelten |64| –, andere mehr im verborgenen – bei den christlichen Nationen. Doch im großen ganzen nichts, was wir nicht bereits in den
vergangenen dreißig Jahren beobachtet hätten. Überdies ereignete sich das alles in angenehmer Distanz, bei fernen Völkern.
Gewiß, man war erregt, man war empört, man unterzeichnete Protestschreiben, und es kam sogar vor, daß man ein wenig Geld gab.
Gleichzeitig aber wurden wir nach all diesem per procura erlebten Leid im Grunde unseres Wesens zuversichtlicher. Der Tod
betraf immer die anderen.
Die Massenmedien – ich habe die letzten Nummern von »Le Monde« aufbewahrt und sie neulich wieder durchgelesen – waren damals
nicht besonders alarmierend. Oder sie waren es, aber auf lange Sicht. Zum Beispiel die Umweltverschmutzung. Man sah voraus,
in vierzig Jahren würde sie den Erdball an den Rand des Abgrunds bringen. Vierzig Jahre! Ich meine zu träumen. Wenn wir sie
doch vor uns hätten!
Tatsache ist – ich sage das ohne Ironie, denn sie wäre nur zu billig –: Presse, Rundfunk, Fernsehen, keines der großen Informationsorgane,
die uns so gut – jedenfalls so reichlich – unterrichteten, hat irgendwie und irgendwann das Ereignis vorausgeahnt. Und als
es über die Welt hereinbrach, konnten sie es nicht einmal im nachhinein kommentieren: Es gab sie nicht mehr.
Möglich ist übrigens, daß das Ereignis nicht voraussehbar war. Ein fürchterlicher Irrtum im Kalkül eines Staatsmannes, der
sich von seinen Stäben weismachen ließ, daß er über die absolute Waffe verfüge? Der plötzliche Wahnsinn eines Verantwortlichen
oder auch nur eines Ausführenden auf unterer Ebene, der einen Befehl gibt, den dann niemand mehr widerrufen kann? Ein technisches
Versehen, das durch Kettenreaktion automatische Antworten nach sich zieht, während diese wieder andere bei den gegnerischen
Parteien auslösen und so fort bis zur endgültigen Vernichtung?
Die Hypothesen kann man vermehren. Die Wahrheit wird man niemals erfahren: Die Mittel, sie kennenzulernen, sind vernichtet
worden.
Die dunkle Nacht beginnt an jenem Ostertag, als die Historie
Weitere Kostenlose Bücher