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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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wenn er schon nicht mehr mit uns im Raum wäre.
    Ich nickte.
    »Monsieur Paulat hat absolut das Recht.«
    »Die Stimme zu verweigern oder dagegen zu stimmen«, sagte Peyssou nach einem kurzen Moment, »läuft meiner Meinung nach auf
     ein und dasselbe hinaus.«
    »Aber nicht doch, nicht doch!« rief Monsieur Paulat aufgeregt. »Verwechseln Sie das nicht. Ich bin nicht gegen diesen Text.
     Ich enthalte mich der Stimme, weil ich meine, daß man mir nicht Zeit gelassen hat, darüber zu debattieren.«
    Peyssou wendete ihm langsam den Kopf zu und betrachtete ihn schweigend mit nachdenklicher Miene.
    »Trotzdem«, sagte er, »Sie sind nicht dafür. Sonst hätten Sie dafür gestimmt.«
    »Ich bin weder dafür noch dagegen«, sagte Monsieur Paulat, in der Erregung mehr denn je Spucke sprühend. »Ich weigere mich
     abzustimmen. Das ist etwas ganz anderes.«
    Peyssou grübelte über diese Antwort nach, sein graues Auge erstaunt auf Monsieur Paulat geheftet. Meyssonnier rutschte auf
     seinem Stuhl hin und her, wie wenn er aufstehen und reden wollte, doch ich gab ihm mit einem Blick zu verstehen, er solle
     ruhig bleiben. Ich lauschte. Auch Colin lauschte. Und Meyssonnier schließlich auch. Wir alle warteten auf die Fortsetzung.
     Und die Fortsetzung kam.
    »Etwas begreife ich nicht«, nahm Peyssou das Gespräch langsam wieder auf. »Nämlich warum Sie überhaupt hergekommen sind, wenn
     Sie doch weder dafür noch dagegen sind.«
    Monsieur Paulat wurde bleich und erhob sich.
    »Wenn Ihnen meine Anwesenheit mißfällt, kann ich mich ja zurückziehen«, würgte er undeutlich hervor, wie wenn er an seiner
     eigenen Zunge ersticken müßte.
    Nun stand ich auch auf.
    |59| »Aber nein, hören Sie doch, Monsieur Paulat, Peyssou hat nichts dergleichen sagen wollen …«
    In diesem Ton fuhr ich fünf Minuten lang fort und goß viel Öl in seinen Abgang, damit er sich schmerzlos vollziehen konnte.
     Indessen stellte ich fest, daß Monsieur Paulat, während er mir antwortete, den Durchschlag meines Briefes an den Bürgermeister
     zusammenfaltete und in seine Tasche steckte. Sofort forderte ich ihn für meine »Archive« zurück. Er machte eine unschlüssige
     Bewegung, faßte sich und reichte mir das Papier mit einem gelben Lächeln. Dieses Gelb war das letzte, was ich von ihm sah.
    Nach dem Abgang von Monsieur Paulat begleitete ich meine Gefährten wortlos zu dem Parkplatz vor dem äußeren Burgwall zurück.
     Vielleicht etwas erschöpft von der langen Sitzung, fühlte ich mich einen Moment lang niedergeschlagen. Im Grunde waren das
     alles Nichtigkeiten. Ebenso unbedeutend waren die Gemeindewahlen, die unsere Landsleute zu Beginn des Jahres 1977 so leidenschaftlich
     erregten. Und nicht weniger lächerlich vielleicht die Probleme, die in derselben Minute unsere Regierung bewegten und ihr
     die Illusion verschafften, daß sie die Herrschaft über unser Schicksal in der Hand behielte.
    Auf dem kleinen Parkplatz vor Malevil gab es einen technischen Zwischenfall. Colins Renault wollte nicht anspringen. Colin
     war außer sich. Er sollte seine Frau und die beiden Kinder in der Kreisstadt vom Bahnhof abholen, wo sie um 14 Uhr 52 mit
     dem Schnellzug ankamen. Es war Sonntag, kein Autoschlosser zu erreichen, der den Wagen wieder flottmachen könnte, und es blieb
     ihm kaum noch Zeit, die sechzig Kilometer bis in die Stadt zurückzulegen. Nach kurzer Diskussion nahm ich meinen Wagen und
     fuhr Colin zum Zug.
    Mir stockt die Feder, ich überlese noch einmal den Satz, den ich geschrieben habe, und ich bin wie vom Schlag getroffen. Oh,
     an sich ist nichts Besonderes an diesem Satz. »Ich nahm meinen Wagen und fuhr Colin zum Zug.« Was wäre einfacher? Und doch,
     beim nochmaligen Lesen spüre ich einen entsetzlichen Bruch. Der Wagen, der Zug: Hinter diesen beiden Wörtern tut sich der
     klaffende Spalt auf, der unser Leben in zwei Teile reißt. In der Tat ist der Graben, der die beiden Hälften unseres Daseins
     trennt, so unüberbrückbar, daß ich nicht mehr |60| recht zu glauben vermag, ich hätte – vorher – eine Folge von so erstaunlichen Handlungen ausführen können: mein Auto aus der
     Garage fahren, bei einer Tankstelle anhalten, um Benzin zu kaufen, einen Freund zum Zug fahren und am frühen Nachmittag wieder
     zu Hause sein, nachdem ich in zwei Stunden einhundertfünfundzwanzig Kilometer zurückgelegt hatte, auf einer völlig sicheren
     Fahrstraße, auf der keine andere Gefahr drohte als die Geschwindigkeit des Wagens, den ich

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