Malevil
steuerte. Wie fern mir das alles
erscheint. Und was für eine wundervolle Welt, in der man all das tun konnte!
Gott sei Dank denke ich niemals darüber nach. Außer auf dem Umweg über eine Erinnerung. Oder wenn ich mich, wie in diesem
Moment, damit aufhalte, die Welt von vorher zu beschreiben, die so geborgen, so einfach, so kindlich war.
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Ich täusche mich. Diese kurze Autofahrt mit Colin zum Bahnhof der Kreisstadt ist nicht meine letzte Erinnerung an die Welt
von vorher. Eine andere, knapp vor der dunklen Nacht, taucht eben auf. Und ich weiß wohl, warum ich sie beinahe »verges sen « hätte.
Am Dienstag bekomme ich einen Brief von Birgitta. Als Mädchen mit Methode schreibt sie mir jeden Sonntag. Sie faßt ihre Liebesbriefe
in einem einfachen, grammatikalisch untadeligen Französisch ab, das mit idiomatischen Ausdrücken gespickt ist, die sie manchmal
an der falschen Stelle verwendet.
Die Komposition ist immer die gleiche. Mit einem kurzen Satz erkundigt sie sich nach meinem Leben, und auf vier Seiten erzählt
sie mir von dem ihren. In einem dritten Abschnitt wendet sie sich dem Thema Erotik zu.
Auch dieses Thema ändert sich nicht. Am Samstagabend, vor dem Schlafengehen, hat sie wieder das »gelbe Blatt« gelesen, dann
legte sie sich nackt unter ihre Decken, dachte an mich und an alles, was ich auf dem »gelben Blatt« beschrieben habe, insbesondere
an meine Liebkosungen (»Ach, Emmanuel, deine Hände!«), und fühlte sich »toll erregt«. Und daraufhin, betont sie, hatte sie
viel Mühe einzuschlafen.
Warum am Samstagabend? Vermutlich weil sie am Sonntagmorgen nicht arbeiten muß und sich eine kleine Schlaflosigkeit leisten
kann, ohne ihrer Leistungsfähigkeit am nächsten Tag zu schaden.
Daran erkenne ich Birgittas Gewissenhaftigkeit. Ich lese ihren Brief, ich lese ihn noch einmal, das heißt die erotische Partie,
und obgleich ich es so erwartet habe und das Ganze mich belustigt, ist es von unbezweifelbarer Wirkung auf mich. Schön. Es
ist trotzdem an der Zeit, daß auch ich ein wenig gewissenhaft bin und mich an die Arbeit begebe. Ich stehe auf, und als ich
den Brief schon weglegen will, fällt mein Blick auf das Postskriptum.
|62| Sie geht Montag in die Klinik, um sich am Blinddarm operieren zu lassen. Sie teilt mir die Adresse mit und hofft, daß ich
ihr schreiben werde.
Birgittas Blinddarm erinnert mich daran, daß ich mir den eigenen hätte operieren lassen sollen – eine schwere Fahrlässigkeit,
hat der Doktor gesagt –, und ich merke mir vor, daß ich nach Ostern, Arbeit oder nicht, acht Tage Stilliegen in Aussicht nehmen
muß, um ihn loszuwerden. Ich schreibe auch an Birgitta, und ich rufe einen Parfümeur in der Kreisstadt an und bitte ihn, ein
Fläschchen Chanel No 5 in die Münchener Klinik zu schicken.
Eine Woche vergeht ohne Nachricht. Beunruhigt, weil ich Komplikationen befürchte, schreibe ich nochmals, und vierzehn Tage
später trifft die Antwort ein.
Birgitta hat in der Klinik einen jungen Mann kennengelernt, der sich in sie verliebt hat. Auch sie liebt ihn. Sie wird ihn
heiraten. Gewiß, um meine Zärtlichkeiten wird es ihr leid tun, denn in dieser Hinsicht habe ich sie verwöhnt,
und Dank auch, Emmanuel, für die Geschenke. Sei innig umarmt, Birgitta. – PS: Ich bin sehr glücklich.
Ich falte den Brief zusammen, stecke ihn in den Umschlag zurück und sage ganz laut »exit Birgitta«. Doch dieser leichte Ton
will mir nicht gelingen, ich sitze an meinem Tisch und bin todunglücklich. Die Kehle ist mir zugeschnürt, meine Hände zittern,
und ich habe ein quälendes Gefühl von Verlust, von Niederlage, von Schmälerung. Ich liebe Birgitta nicht, aber trotzdem gab
es ein Band zwischen uns. Ich war, glaube ich, auf die alte christliche Unterscheidung zwischen Liebe und Fleischeslust hereingefallen.
Da ich Birgitta nicht liebte, hielt ich meine Bindung an sie für bedeutungslos.
Das ist sie nicht. Meine Moral war falsch, meine Psychologie täuschte sich. Was ich empfinde, muß ich notgedrungen einen echten
Schmerz nennen. Er überfällt mich unversehens, denn ich glaubte ja, diesmal ohne eigenen Einsatz zu spielen. Ich sagte mir:
Liebe zu Birgitta gleich Null, Spuren von Freundschaft, Achtung nur in Maßen (vor allem, weil sie kein Herz hatte). Daher
die Distanz, die Ironie ihr gegenüber, die vielen achtlosen Geschenke.
Die Fleischeslust, würde Abbé Lebas sagen. Nun gut, die Fleischeslust ist nicht das, was
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