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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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nur mit Thomas’ Hilfe schaffte ich es.
    Wiederum kam er mit dem Mund nahe an mein Ohr, und ich verstand: »Thermometer … über dem Wasserhahn … siebzig Grad.«
    Ich hatte genau gehört, doch brauchte ich eine Weile, bis ich begriff, daß die Temperatur im Keller von plus dreizehn auf
     plus siebzig Grad gestiegen war.
    Ich fühlte mich erleichtert. Ich starb also nicht an einer rätselhaften Krankheit: Ich starb an Hitze. Doch das war für mich
     nur ein bildlicher Ausdruck. Ich wurde mir in keinem Augenblick bewußt, daß die Temperatur noch steigen und tödlich werden
     könnte. Nichts, was ich früher erfahren hatte, konnte mir zu der Vorstellung verhelfen, daß es möglich wäre, in einem Weinkeller
     buchstäblich durch Hitze umzukommen.
    Es glückte mir, mich auf die Knie aufzurichten, und ich schleppte mich auf allen vieren unter fürchterlichen Anstrengungen
     bis zu dem Bottich des Flaschenreinigers. Ich klammerte mich mit beiden Händen daran fest, das Herz klopfte mir gegen die
     Rippen, Nebel trat mir vor die Augen, und ich war schon halb erstickt, als es mir schließlich gelang, mich an dem Bottich
     hochzuziehen und Arme und Kopf ins Wasser zu tauchen. Die köstliche Erfrischung, die ich empfand, deutete, wie ich meine,
     darauf hin, daß das Wasser noch nicht die Temperatur seiner Umgebung angenommen hatte. Ich blieb so lange darin, daß ich vermutlich
     ertrunken wäre, hätten meine Hände nicht eine Stütze auf dem Bottichboden gefunden, so daß ich wieder auftauchen konnte. Ich
     überraschte mich dabei, daß ich von diesem schmutzigen, mit Wein versetzten Wasser, das aus dem Flaschenreiniger in den Bottich
     geflossen war, zu trinken begann. Dann war es soweit, daß ich mich auf den Beinen halten und mit Klarheit meine Gefährten
     sehen konnte. Außer Colin, der gehört haben mußte, was Thomas zu mir gesagt hatte, waren alle noch in ihren Kleidern. Peyssou
     hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Momo trug närrischerweise noch sein Wolltrikot. Er lag völlig schlaff
     mit dem Kopf auf den Knien der Menou. Sie selbst lehnte mit geschlossenen Augen an einem Faß, ihr mageres Gesicht war völlig
     leblos. Meyssonnier sah mich mit Augen an, aus denen Verzweiflung und Ohnmacht sprachen. Ich verstand, er hatte mich trinken |78| sehen, wollte ebenfalls trinken und hatte aber nicht die Kraft, sich bis zu dem Bottich zu schleppen.
    »Zieht eure Kleider aus«, sagte ich. Ich hatte mit Autorität sprechen wollen, war aber überrascht von meiner Stimme. Sie kam
     mir dünn, farblos und ohne Kraft von den Lippen. »Bitte!« fügte ich mit absurder Höflichkeit hinzu.
    Peyssou rührte sich nicht. Die Menou schlug die Augen auf und wollte Momo das Wolltrikot ausziehen; sie vermochte aber den
     Oberkörper ihres Sohnes nicht anzuheben und sank schweißtriefend auf die Rundung des Fasses zurück. Sie mühte sich schrecklich
     und machte wie ein Fisch, der am Ersticken ist, den Mund auf und zu. Meyssonnier schaute auf mich und begann mit den Fingern
     sein Hemd aufzuknöpfen, aber es ging so langsam, daß er nie zu einem Ende kommen konnte.
    Ich selbst sank auf den Boden zurück und kam neben den Bottich zu sitzen; keuchend hielt ich den Blick auf die unglücklichen
     Augen Meyssonniers gerichtet und war entschlossen, ihm zu helfen, sobald ich dazu die Kraft fände. Als ich mich mit dem Ellbogen
     aufstützte, stieß ich gegen einen der beiden sechsfächrigen eisernen Körbe, in denen Momo die Flaschen zwischen seiner Mutter
     und mir hin und her getragen hatte. Ich zählte sechs Flaschen. Und mein Verstand arbeitete so schlecht, daß ich zweimal ansetzen
     mußte, um sie zu zählen. Ich griff nach der, die mir am nächsten war. Sie kam mir sehr schwer vor. Mit großer Anstrengung
     führte ich sie an meine Lippen und trank, und ich war betroffen, daß ich Schmutzwasser zu mir genommen hatte, während ich
     doch so viel Wein um mich hatte. Der Wein war warm und herb. Ich trank etwa die halbe Flasche leer. Der Schweiß brach mir
     in solcher Menge aus, daß meine dichten Augenbrauen ihn nicht mehr aufhalten konnten. Er rieselte mir unablässig in die Augen
     und machte mich blind. Immerhin fühlte ich ein wenig Kraft wiederkehren, und ich kroch, nun nicht mehr auf allen vieren, sondern
     linksseitig und mit der halbvollen Flasche in der rechten Hand, zu Meyssonnier hinüber.
    Ich merkte, daß die Fliesen unter meiner Hüfte sehr heiß waren. Ich machte halt, um Atem zu schöpfen; im Gesicht und

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