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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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trat.
    Auch der moralische Sinn ging mir verloren. Nicht sofort, denn anfänglich gab ich mir ja Mühe, Meyssonnier Hilfe zu leisten.
     Das aber war, wenn ich so sagen darf, ein letztes Aufflackern. In der Folge kam ich nicht auf den Gedanken, daß es eine recht
     wenig altruistische Handlungsweise war, den einzigen Wasserbottich, den wir hatten, in Beschlag zu nehmen, darin unterzutauchen
     und so lange darin sitzen zu bleiben. Anderseits, hätte ich das nicht getan, hätte ich dann wohl die Kraft gehabt, auf Knien
     und Händen bis zur Tür zu kriechen, die Germain offengelassen hatte, und sie zuzuschlagen? Hernach bemerkte ich ja, daß sich
     von meinen Gefährten keiner rührte, obgleich ihre Augen mit einem Ausdruck des Leidens starr auf die Öffnung gerichtet waren.
    Ich habe behauptet, ich hätte nicht die Kraft gehabt, mich bis zu Germain zu schleppen, als ich, kaum einen Meter von ihm
     entfernt, mit hängendem Kopf ausgestreckt am Boden lag. Besser wäre es, nicht von Kraft, sondern von Mut zu reden; schließlich
     hatte ich dann ja die Kraft, wieder meinen Bottich aufzusuchen. In Wirklichkeit stand ich noch unter der Einwirkung des Entsetzens,
     das ich empfand, als ich seinen aufgedunsenen, bluttriefenden Körper vor mir sah, die halb abgelösten Fleischfetzen, die ihm
     wie ein im Verlauf eines Kampfes zerrissenes Hemd vom Leibe hingen. Germain war groß und kräftig, und vielleicht weil ich
     zusammengesunken war, vielleicht auch weil sein Schatten, der auf die Gewölbe fiel, durch die Kerzen übermäßig verlängert
     wurde, erschien er mir riesig und furchterregend, als wäre der Tod selbst und nicht eines seiner |84| Opfer hereingekommen. Überdies stand er aufrecht, während uns die Schwäche zu Boden geworfen hatte. Während er mich mit seinen
     blauen Augen durchbohrend anstarrte, fing er schließlich zu schwanken an, vor und zurück, und in diesem Schwanken glaubte
     ich eine Drohung zu erkennen, als wollte er sich gleich auf mich stürzen, um mich zu vernichten.
    Ich erreichte den Bottich, aber zu meiner großen Überraschung legte ich mich nicht hinein, denn als ich die Hand eintauchte,
     fand ich das Wasser zu heiß. Ich hätte daraus schließen sollen, daß diese Empfindung nur Täuschung war, daß in Wirklichkeit
     die umgebende Luft sich abzukühlen begann, doch ich dachte nicht einen Augenblick daran, und ich dachte auch nicht daran,
     auf das Thermometer über der Wasserzapfstelle zu schauen. Ich hatte nur einen Gedanken: die Berührung mit den Fliesen zu fliehen.
     Nicht ohne Mühe hievte ich mich auf zwei Weinfässer, die einander berührten. Ich setzte mich quer zu der Vertiefung zwischen
     den Fässern, so daß meine Beine und mein Oberkörper erhöht lagen. Das Holz vermittelte mir fast das Gefühl von Kühle und Behaglichkeit,
     doch diese Empfindung hielt nicht an, ich litt zu sehr, wiewohl sich der Schmerz verlagert hatte. Ich schwitzte weniger und
     war nicht mehr am Ersticken, doch Handflächen, Knie, Hüften und Gesäß, alle Körperteile, die mit dem Fußboden in Berührung
     gekommen waren, taten mir weh. Ich hörte ringsum ein leises Wimmern, vorübergehend dachte ich lebhaft beunruhigt an meine
     Gefährten, bis ich beschämt merkte, daß ich es selbst war, der wimmerte. Später wurde mir das klar. Nichts ist so subjektiv
     wie der Schmerz, denn der Schmerz, den ich empfand, stand in Wirklichkeit in keinem Verhältnis zu den recht oberflächlichen
     Verbrennungen, die ihn verursachten. Sobald ich wieder etwas zu Kräften gekommen war und zu handeln begann, vergaß ich sie.
    Auch daß ich einschlief, beweist, daß es nur leichte Verbrennungen waren, und ich muß eine gewisse Zeit geschlafen haben:
     Als ich erwachte, gewahrte ich, daß die dicken Kerzen in den Leuchtern heruntergebrannt waren und irgend jemand, in etwas
     weiterer Entfernung, andere angezündet hatte. Nun verspürte ich am ganzen Körper, insbesondere im Rücken, eisige Kälte. Mich
     schauerte. Ich hielt nach meinen Kleidern Ausschau. Da ich sie nicht sah, änderte sich unwillkürlich meine |85| Absicht, und ich beschloß, von meinem Hochsitz herabzusteigen, um am Thermometer die Temperatur abzulesen. Ich kam nur mühsam
     von der Stelle. Meine Muskeln waren steif geworden, beinahe erstarrt, und meine Handflächen schmerzten bei jeder Bewegung.
     Das Thermometer zeigte dreißig Grad über Null, doch ich sagte mir umsonst, daß es immer noch warm war, daß ich keine Ursache
     hatte, vor Kälte zu zittern:

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