Malevil
kommenden Luftzug zu schützen. Wieder bewundere ich seine Gesichtszüge,
seine griechische Nase, den Saum seiner Lippen, die Kontur seiner Wangen. Ich bemerke, daß er im Schlaf den Ausdruck von Strenge
verliert. Er hat im Gegenteil etwas Kindliches und Wehrloses an sich. Sein blonder Bart wächst langsam, er rasiert sich nur
jeden zweiten Tag. Und da er sich heute morgen rasiert hat, findet sich kein Schatten auf seiner Wange. Sie erscheint mir
glatt und samtig, nahe den Mundwinkeln zeigt sich der Ansatz eines Grübchens, das ich bisher nie bemerkt hatte. Sein blond
gelocktes Haar, das kurz geschnitten war, als ich ihm damals im Unterholz begegnete, ist gewachsen, seit er in Malevil wohnt,
und verleiht ihm ein beinahe weibliches Aussehen.
Mit einem Ruck drehe ich mich in meinem Bett auf die andere Seite, kehre Thomas den Rücken zu und denke, daß ich eines Tages
die Zimmer werde neu aufteilen müssen, damit es einen Wechsel in der Belegung gibt und Thomas nicht immer in meinem bleibt,
das ja von allen das bequemste ist. Dabei habe ich ein sonderbares Angst- und Schuldgefühl, für das ich keinen Grund anzugeben
weiß, das mich aber wach hält. Zwischen verworrenen Gedanken und kurzen Momenten des Eindämmerns kommen mir so beschämende
und demütigende Traumbilder, daß ich aufstehe, meine Kleider vom Stuhl nehme, mein Zimmer verlasse und mich ein Stockwerk
tiefer ins Badezimmer begebe. Aber auch dort noch plagen mich die widerlichen und schändlichen Phantasien, bis ich mit dem
Rasieren fertig bin. Während ich lange unter der Dusche stehe, ist mir, als reinigte ich mich von meinen Träumen.
Auf meiner Armbanduhr ist es fünf, als ich aus dem Bergfried auf den Hof hinausgehe. Wie an jedem Tag seit dem Ereignis ist
es kalt und grau. In Malevil bin ich als einziger schon auf den Beinen. Meine Schritte hallen auf dem Pflaster wider. Der
riesige Bergfried, die Wallmauern und der Wohnbau bedrücken mich mit ihrer Masse. Vor dem Frühstück bleiben mir noch zwei
lange Stunden des Alleinseins.
Ich gehe über die Zugbrücke, und von da erreiche ich die äußere Umfassungsmauer und die Maternité. Bel Amour und ihr Fohlen,
das sich an ihre Flanke lehnt, schlafen im Stehen. Aber sobald ich mit dem Kinn über das Gatter ihrer Box komme, |152| spielen Bel Amours kleine Ohren, öffnet sie die Augen, nimmt sie mich wahr und schnaubt mit einem gedämpften, freundschaftlichen
Wiehern die Luft aus den Nüstern. Sie macht einen Schritt auf mich zu, das halberwachte Fohlen wankt und taumelt auf seinen
langen dünnen Beinen vorwärts, bis es am Bauch der Mutter seine Stütze wiedergefunden hat. Bel Amour streckt den Kopf über
das Gatter und legt ihn, während ich ihr die Schläfe tätschle und das Fohlen betrachte, auf meine Schulter. Ein Tierkind hat,
wie ein kleiner Mensch, immer etwas Rührendes an sich. Malice hat den gleichen weißen Fleck auf der Stirn und das gleiche
braunrote Fell wie ihre Mutter und sieht mich mit ihren schönen, unschuldigen Augen erstaunt an. Gern würde ich die Box betreten
und sie streicheln, doch ich weiß nicht, ob Bel Amour das mag, und so lasse ich es bei meinem Wunsch. Bel Amour legt ihre
Kinnlade, dann ihre sanften, feuchten Nüstern an meinen Hals und macht wiederum »pff«. Offenbar ist sie glücklich. Sie wird
von uns verhätschelt, sie ist gut genährt, und sie hat ihr Füllen. Sie weiß nicht, daß es ihr letztes Fohlen ist und daß über
ihre Gattung, wie über unsere, das Urteil gesprochen ist.
Der Tag vergeht mit unseren einförmigen Tätigkeiten. Und am Abend, während ich die Ellbogen auf die Bibel und den Kopf in
die Hände stütze, sehe ich diese Szenen wieder vor mir und verfolge mit wechselnder Aufmerksamkeit das Gespräch über La Roque.
Das Feuer ist weit niedergebrannt, und die Menou, die in ihrer Kaminecke vor sich hin dämmerte, erhebt sich und gibt damit
das Zeichen zur Beendigung der abendlichen Runde. Wir tragen die Stühle an den Tisch zurück. Die Menou macht das Feuer mit
der Zange kunstvoll zurecht, um am nächsten Tag noch Glut zu haben, und während ich mit der geschlossenen Bibel unter dem
Arm noch herumstehe, mit meinen Gefährten lache und plaudere, habe ich Angst vor der Nacht und gehe in Gedanken wie ein Gefangener
in seinem Hof im Kreise.
Ich erinnere mich genau an diesen Abend und an die Angst, die mir der Gedanke an eine weitere schlaflose Nacht bereitete.
Ich erinnere mich gut daran, denn am
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