Malevil
ziehe Nägel aus den alten Brettern und richte den Lagerraum
ein.
Ich weiß, das ist in meinem Falle ein Zurückweichen und Entsagen. Ich ziehe mich jeden Tag weiter in mich zurück, ich bin
schon mehr als ein halber Mönch. Und jetzt, während ich, getreu meiner Strategie der dosierten Aufmerksamkeit, mit halbem
Ohr zuhöre, lehne ich meinen Nacken an den steinernen Sockel des Kamins und frage mich, was sich ändern würde, wenn ich wirklich
gläubig wäre. Oh, gewiß, das würde mich vor neue Probleme stellen, unter anderem vor die Frage, warum Gott zugelassen hat,
daß seine Geschöpfe seine Schöpfung vernichten. Doch lassen wir das Gedankenspiel beiseite. Würde es mir das Herz auch nur
anwärmen? Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Das alles liegt mir so fern. Ist so abstrakt. Wenn ich träume, dann nicht von
Gott.
Ich habe zwei Arten von Träumen, die eine, wenn ich keinen Schlaf finde, hellwach und beabsichtigt, die andere, von meinem
Willen unabhängig, im Schlaf. Wenn ich nicht schlafen kann, presse ich meine Brust, meinen Unterleib und meine Schenkel kräftig
gegen die Matratze und modelliere Birgitta. Und wenn sie schließlich lebendig, warm und seidig in meinen Armen liegt, werfe
ich mich auf sie, liebkose sie, beiße sie. Und beiße sie nicht nur, sondern sauge sie in mich ein, trinke sie, esse sie auf.
Darum, vermute ich, verschwindet sie so rasch und fällt es mir immer schwerer, sie wieder zum Leben zu erwecken.
Am wenigsten von beiden Träumen frustriert mich noch der, den ich im Schlaf habe, fast immer der gleiche. An einem hellen
Morgen steige ich in Cimiez, hoch über Nizza, eine Treppe hinunter. Dieses Treppenhaus ist mir wohl vertraut, obwohl ich im
wirklichen Leben nur einmal hinabgestiegen bin. Es ist breit und hell, durch hohe Fenster flutet das Sonnenlicht herein. Während
ich in meinem Traum hinabsteige, eilt mir treppauf ein junges Mädchen mit gelöstem Haar und graziös am Körper herabfallenden
Armen entgegen. Sie hat eine entzückende |150| Brust, die sich im Rhythmus ihres Laufs bewegt. Und während sie über den Treppenabsatz im Zwischenstock geht und auf mich
zukommt, beleuchtet die Sonne von hinten ihr Haar. Den Kopf zu mir erhoben, steigt sie die letzten Stufen hoch, ich kenne
sie nicht, aber ihre Augen und ihr Mund lächeln mich freundschaftlich an. Das ist alles, damit hört es auf. Aber ich fühle
mich – wie soll ich es ausdrücken? – von dieser Erscheinung so erfrischt, als hätte ich den Duft von Flieder eingeatmet.
In der vergangenen Nacht wachte ich gleich nach diesem Traum auf, und die Ernüchterung war sehr schmerzlich. Ich empfand entsetzlichen
Kummer und zugleich körperliches Unbehagen. Ich spürte, wie der Brustkorb mir das Herz einengte, und als bedingte eins das
andere, hatte ich das furchtbare Gefühl, allein zu sein. Besser gesagt, das Alleinsein erschien mir als ein Schmerz, der seinen
Sitz in meiner Brust hat. Ich richtete mich in meinem Bett auf, ich zwang mich, Luft zu holen, und zu meiner großen Verwunderung
gelang es mir mühelos. Herz, Lungen, alles erfüllte seine Funktion, nichts tat mir weh, nur die Kehle war mir fest zugeschnürt,
und mich beschlich jenes sonderbare Gefühl der Spannung, von der man erwartet, daß sie sich entlädt – und die sich schließlich
in einem Strom von Tränen löst.
Während sie mir langsam die Wangen herabrinnen, geht mir immer wieder, bis zur Erschöpfung, die gleiche Litanei durch den
Kopf: Ich habe nicht geheiratet, ich habe keine Kinder gehabt. Das Aussterben der Gattung Mensch steht bevor. Ich werde es
erleben. Denn absurderweise bin ich auf einmal der Überzeugung, daß alle meine Gefährten, sogar der um fünfzehn Jahre jüngere
Thomas, vor mir dahingehen und mich allein lassen werden. Und ich sehe mich, alt und krumm, unablässig durch die weitläufigen
Gemächer von Malevil wandern und auf meine Schritte horchen, die im Keller, unter den Gewölben, im großen Saal des Wohnbaus,
in meinem Zimmer im Bergfried widerhallen.
Es ist die erste klare Nacht seit dem Ereignis, vielleicht ist es bereits Morgen. Neben mir auf seiner Couch, viel tiefer
unten als ich auf meinem Bauernbett mit dem hohen Fußgestell, kann ich das Gesicht von Thomas erkennen; er liegt mit geschlossenen
Augen, die Wange hingebungsvoll in sein Kopfkissen geschmiegt, und hat das Bettuch bis zum Kinn und hinten bis |151| zum Nacken hinaufgezogen, um sich gegen den vom Fenster
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