Malevil
Mutter war, verstand ich ihn nicht. Ich sah die
Menou an, sie verstand ihn auch nicht besser. »Es tut mir weh« lautete in der Momosprache »uijeh«, und außerdem |155| schloß sein Jubel jeden Gedanken an einen Sturz oder eine Verletzung aus.
»Aawee?« fragte die Menou schließlich und stand auf. »Aawee, was ist denn das?«
»Aawee, vadammomal!« schrie Momo, sprang wütend herum und schien empört, daß wir nicht besser begriffen, was er sagte.
»Was ist denn, Momo?« fragte ich und drehte mich zu ihm um. »Erklär es uns! Was heißt aawee?«
»Aawee!« brüllte Momo noch lauter.
Teils aus Aufregung, teils aus Verdruß, sich nicht verständlich machen zu können, stieß er kurze, heisere Schreie hervor;
Tränen in den Augen und Speichel auf den Lippen, stampfte er mit den Füßen. Wir blickten einander an. Auch wenn wir seine
gewohnte Erregbarkeit in Rechnung stellten, mußten wir uns über seine Raserei ziemlich wundern.
»Aawee!« brüllte er abermals. Und mit einemmal breitete er seine Arme waagerecht aus und flatterte damit, als wollte er fliegen.
»Rabe?« fragte ich aufs Geratewohl.
»Enau! Enau!« sagte Momo und rief, das Gesicht von Dankbarkeit überstrahlt: »Liwunguju Emamuel! Liwunguju Emamuel!« (Lieber
guter Emmanuel!) Und er hätte mich ganz gewiß geküßt, hätte ich ihn nicht mit dem ausgestreckten Arm auf Abstand gehalten.
»Hör mal, Momo, bist du sicher? Gibt es einen Raben in Malevil?«
»Enau! Enau!«
Völlig ungläubig sahen wir einander an. Seit dem Tage des Ereignisses waren die Vögel für immer verstummt.
»Schaun! Schaun!« rief Momo und zog mich an dem Arm, mit dem ich ihn auf Abstand hielt. Ich ließ ihn frei, und er rannte sofort
los, mit seinen genagelten Schuhen über die Steinfliesen schlurfend. Ich folgte ihm, und hinter mir kamen alle meine Gefährten,
einschließlich der Menou, die nur wenig zurückblieb, wie ich bei unserer Ankunft im äußeren Burghof merkte.
Ich sah Momo auf der Zugbrücke stehenbleiben. Ich hielt an. Da war er. In kaum zwanzig Meter Entfernung von der Maternité
hüpfte schwerfällig der Rabe umher. Er war keinesfalls mager oder verletzt, sein blauschwarzes Gefieder glänzte vor Gesundheit, |156| während er mit seinem dicken Schnabel hier und da ein Korn aufpickte. Als er uns bemerkte, hörte er auf und drehte sich ins
Profil, um uns mit seinem wachsamen schwarzen Äuglein zu mustern. Aufgerichtet, konnte er doch nicht seinen krummen Rücken
verbergen und sah wie ein gebeugter alter Mann aus, der, die Hände auf dem Rücken, klug und bedächtig den Kopf ein wenig schräg
hält.
Keiner von uns rührte sich, und gerade diese Bewegungslosigkeit flößte ihm wohl Furcht ein, denn er entfaltete seine breiten
blauschwarzen Flügel und flog, ein einziges »Krah« ausstoßend, im Tiefflug davon, gewann dann allmählich an Höhe und landete
auf dem Dach des Torbaus hinter dem Schornstein, wo nach einer Sekunde sein dicker Schnabel hervorkam und sein kluges Auge
unsere Gruppe fixierte.
»Also nein«, sagte der große Peyssou, »hätte man mir früher gesagt: Eines Tages wirst du froh sein, einen Raben zu sehen –
ich hätte es nicht geglaubt.«
»Und ihn so aus der Nähe zu sehen«, sagte die Menou. »Denn weiß Gott, diese Tierchen sind mißtrauisch und schlau, sie lassen
dich niemals näher als hundert Meter heran.«
»Außer wenn du im Auto bist«, sagte Colin.
Das Wort »Auto« verbreitete Frost, denn es gehörte der Welt von vorher an, doch wich er schnell dem allgemeinen Glücksgefühl,
das unter einem Schwall von Worten verborgen und nichtsdestoweniger lebendig war. Wir waren uns darüber einig, daß sich der
Rabe am Tage des Ereignisses zufällig oder aus Instinkt in einer der zahlreichen Grotten aufgehalten hatte, die sich in den
Felsen dieser Gegend finden (und in die sich zur Zeit der Religionskriege die Kalvinisten geflüchtet hatten). Er hatte die
Klugheit besessen, so lange darin zu bleiben, bis die Gluthitze vorbei war. Und als es sich wieder abkühlte, hatte er sich
von Aas genährt, vielleicht sogar von unseren Pferden. Doch über die Gründe, weshalb er unsere Gesellschaft suchte, wurde
kräftig gestritten.
»Ich sage dir«, erklärte Peyssou, »daß er recht froh ist, wieder Menschen gefunden zu haben, denn er weiß, daß es dort, wo
Menschen sind, für ihn immer etwas zu futtern gibt.«
Doch diese materialistische These gefiel uns nur halbwegs, und merkwürdigerweise war es
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