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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Flügelschlägen löste er sich aus der klebrigen Falle und stieg in die Lüfte empor – und die fette Spinne, die jetzt aus ihrem Versteck gekrabbelt kam, weil sie um ihr Abendessen fürchtete, konnte nunmehr den bunten Flügeln hinterhersehen, die noch einen Moment dicht vor dem Netz auf und ab tanzten, bevor der Schmetterling davonflog.
    Und während Jordi beobachtete, wie das schillernde Wesen in der Ferne verschwand, wusste er mit einem Mal, dass er in ebendem Augenblick, in dem es dem Tier gelungen war, sich gegenüber der Spinne zu behaupten, einen Entschluss gefasst hatte. Es war ein Entschluss von solcher Tragweite, dass es ihn verwunderte, wie ein solcher Gedanke von ihm höchst selbst gedacht worden sein konnte.
    »Etwas muss sich endlich ändern.« Er sprach diese Worte laut aus. Die Worte klangen hell und klar, als hätten sie schon lange in ihm gelauert und nur darauf gewartet, ausgesprochen zu werden.
    »Ich werde nicht mehr zurückgehen!« Auch das sagte er laut. Es war niemand da, der sich über ihn hätte wundern können. Und selbst wenn da jemand gewesen wäre, hätte das nichts daran geändert, dass Jordi Marí zum ersten Mal seit Jahren eine Entscheidung getroffen hatte und den Weg vor sich sah, den er gehen wollte. Nun ja, wenn er ehrlich war, sah er den Weg noch nicht besonders deutlich vor sich. Aber das kümmerte ihn in diesem besonderen Moment herzlich wenig.
    Jordi trat an das Spinnennetz heran und beobachtete die fette Jägerin, die nun ganz ruhig am Rand des Netzes saß und wartete.
    Warte du nur, dachte er beschwingt. Der Schmetterling wird den gleichen Fehler jedenfalls nicht noch mal machen.
    Jordi atmete einmal tief ein und wieder aus. Ja, er würde hier bleiben, in der Stadt, die er schon immer geliebt hatte, das war so sicher wie die Tatsache, dass der Leuchtstab noch immer zerbrochen zu seinen Füßen lag. Er hörte, wie die singende Stadt um ihn herum langsam erwachte, und wusste, dass er es schaffen würde. Irgendwie würde er sich durchschlagen.
    »Leb wohl, Spinne«, sagte er. Und lächelte dabei, wie er es seit langer Zeit schon nicht mehr getan hatte.
    Aus einem Grund, den er selbst nicht kannte, zog es Jordi nach Dalt Vila, jenem Stadtteil Barcelonas, der sich mit seinen weißen Häusern an den Montjuic schmiegte. Es mochten zwei Stunden vergangen sein, seit er die Spinne in der Gasse irgendwo nahe der Avinguda de les Drassanes zurückgelassen hatte. Umhergewandert war er, ohne Ziel. Und dabei hatte er sich so frei gefühlt wie der Schmetterling in der Luft.
    Die engen Straßen und Gassen in der Altstadt trugen noch immer die Namen der Handwerker und Zünfte, die sich einst hier niedergelassen hatten. Es gab Spiegelmacher in der Carrer dels Mirallers, Hutmacher in der Carrer dels Sombrerer und Silberschmiede in der Carrer de la Argentaria. Mancherorts sah man geschnitzte Treppen, die außen an den Fassaden zu den Hauseingängen unter den Dachfirsten führten. Es gab Gaststätten, in deren Fenstern warmes Licht leuchtete und die Tapas und Cava anboten.
    Dort, wo sich der Passaeig el Born zur Placa Mercat öffnet, befanden sich die Markthallen, große Gebäude aus Eisen und Glas. Jordi war schon mehrmals hier gewesen, wenn er Vorräte für den Leuchtturm hatte einkaufen müssen. Auf den gekrümmten Laternen aus Gusseisen saßen oft fliegende Fische, deren Mosaikschuppen das sanfte Licht brachen, sodass sie wie durchsichtig kunterbunte Wesen aussahen, die ein Maler in die Wirklichkeit gepinselt hat. Es roch nach heißer Schokolade und den Nadeln der Pinien, nach Kaffee und den Blüten der katalonischen Herbstbäume, in deren Ästen auch um diese Jahreszeit noch Buchstaben wuchsen.
    Die ersten Stunden in Freiheit waren es, in denen Jordi durch Straßen wanderte, die er schon lange kannte, aber doch nie so gesehen hatte, wie er es jetzt tat. Er atmete das richtige Leben und war so voller Zuversicht, dass er förmlich hätte platzen können vor Glück.
    Doch dann traf er zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Mann mit der Harlekin-Maske und ihm wurde bewusst, dass es Dinge in der Stadt gab, um die man besser einen großen Bogen machte.
    Er bemerkte den Maskenmann am Placa del Laietana, aber er konnte nicht sagen, ob es die gleiche Gestalt war, mit der er vorhin zusammengestoßen war. Es war eine ähnliche Maske, ganz sicher, breit grinsend in schwarz-weiß mit Lippen so rot wie Blut. Halb lag sie im Schatten des breiten Hutes, den der Mann trug. Sein Gewand wirkte irgendwie

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