Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
Schatten sein. Sie wollten leben. Doch die Menschen verweigerten ihnen das Recht dazu. Die Schatten seien Sklaven, sagten sie, und würden immer nur die Diener der Menschen sein.«
»Das klingt ungerecht.« Catalina fragte sich, ob die Schatten in dieser alten Geschichte etwas mit den wirklichen Schatten zu tun hatten, denen sie in der Windmühle und hoch oben in den Lüften begegnet waren.
Es ist ein Märchen, schoss es ihr durch den Kopf.
»In den Stunden, in denen die Menschen arglos in ihren Betten schliefen, schlichen sich die Schatten heimlich an sie heran.« Jordis Stimme wurde leise, als er sagte: »Nur in den Träumen, das hatten die Schatten herausgefunden, konnten sie den Menschen begegnen. Denn die Menschen, die im Licht lebten, träumten von den Schatten, wie die Schatten vom Licht und den Menschen träumten.«
»Das ist unheimlich.«
»Finde ich auch.«
»Erzähl sie zu Ende«, drängte Firnis.
»Und so wurden die Schlachten zwischen Menschen und Schatten in den Träumen ausgetragen.« Er hielt die Tasse am Griff fest und Catalina bemerkte, dass Jordis Hand zitterte, wenn auch nur ein bisschen. »In den Träumen eroberten die Schatten die Körper. Und wenn die Menschen erwachten, dann lebten die Schatten in den Augen, und wenn sich das Licht darin brach, dann konnten die Schatten nun endlich danach greifen. Die Menschen mussten fortan tun, was die Schatten von ihnen verlangten.«
Dem armen Kartenmacher war es genau so ergangen. Erneut fragte sich das Mädchen, warum ihr eigener Schatten sie nicht noch stärker beeinflusst hatte. Wie war das möglich, wenn er doch mit dem alten Mann fertig geworden war?
»Diejenigen«, fuhr Jordi fort, »die noch keine Schatten in ihren trüben Augen hatten, bekamen es mit der Angst zu tun. Sie fürchteten die Kreaturen, die auf einmal die ganze Stadt bevölkerten. Sie verschlossen die Türen ganz fest und redeten bald schon mit niemandem mehr.«
Eine Stadt voller Schattenaugenmenschen, kein schöner Gedanke.
»Einige unter ihnen begannen zu ahnen, dass die Schatten sich den Menschen nur in den Träumen näherten. Und so kam es, dass die Menschen aufhörten zu schlafen. Sie schlossen sich in finsteren Räumen ein, weil es in der Dunkelheit keine Schatten gab. Sie mieden das Licht, weil die Schatten erst durch das Licht geboren wurden. Die Stadt, die einst mächtig und schön gewesen war, begann zu sterben. Erst langsam, dann schneller und schneller. Die Menschen wurden blass und schwach. Kein Fremder kam mehr, weil sich alle fürchteten. Selbst diejenigen, die keine Schatten in sich trugen, waren zu Schatten geworden. Es dauerte nicht lange und die Stadt war selbst zu einem Gespenst geworden.«
Eine seltsame Geschichte, dachte Catalina.
»Und der Name der Stadt?«
Jordi sprach ihn aus wie ein ungelöstes Rätsel: »Madrid.«
»Er hat die Geschichte gelesen«, sagte Firnis, »und dann kam er zu mir, um zu erfahren, was das für eine Stadt sei.« Er hob seine Tasse an den Mund und trank einen Schluck. »Anfangs habe ich geglaubt, sie sei eine Erfindung. Antonio de Guevara ist ein ausgezeichneter Lügner gewesen, wie man sagt. Und die Geschichte, die Jordi gelesen hat, war nur ein Märchen in einem Buch, das vor seltsamen Geschichten nur so strotzt.«
»Aber es ist unsere einzige Spur gewesen«, beharrte Jordi. »Und so haben wir weitergesucht nach einem Hinweis auf diese Stadt.«
»Irgendwann haben wir das alte Buch mit der seltsamen Karte und der Fotografie entdeckt. Das Buch ohne Titel und ohne Verfasser. Es ist das einzige Buch in der Bibliothek, in dem die Stadt namens Madrid erwähnt wird.«
»Aber als wir die Fotografie gesehen hatten, da haben wir uns gefragt, mit was wir es hier zu tun haben.«
»Und mit was haben wir es zu tun?«
Es war Firnis, der ihr antwortete: »Mit einem Geheimnis, einem Rätsel. Es hat nie eine Stadt namens Madrid gegeben. Und doch zeigt die Karte ganz genau den Ort, an dem sich Madrid befinden müsste.«
Catalina starrte die Zeichnung auf dem Tisch an. Ohne darüber nachzudenken, hatte sie sich wieder einen Bleistift gegriffen und zeichnete weiter an dem Bild, das sie am Abend zuvor begonnen hatte. Es schien ihr schon eine ganz natürliche Beschäftigung zu sein. Es beruhigte sie und ihre Hand schien das, was sie tat, ohnehin wie von allein zu tun.
»Glaubst du, dass die Geschichte wahr ist? Dass die Schatten deswegen hier sind?«
Konnte das sein? Waren sie hierhergekommen, um Barcelona mit Finsternis zu
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