Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
mehr Mensch als Schatten. Sie können nicht einfach unter der Tür hindurchwabern.« Er seufzte. »Zumindest gewinnen wir ein wenig Zeit.«
Catalina hoffte inständig, dass er recht behielt.
»Bleibt uns nur noch das Fenster, um von hier abzuhauen.«
Sie schauten sie sich an. Jordi nickte und war schon unterwegs. Aber als Catalina ihm folgte, verwandelte sich jegliche Zuversicht in einen hässlichen Klumpen aus Verzagtheit.
Der gesamte Platz vor dem Haus der Nadeln war eine einzige dichte Menschenmenge. Wie willenlose Marionetten bewegten sich die Schattenaugenmenschen und umringten die Bibliothek.
Es pochte gegen die Tür. Der Küchenschrank erbebte, wenn auch nur kurz. Catalina sah sich um. Das Fenster war der einzige Weg nach draußen. »Wir sitzen wie die Mäuse in der Falle«, flüsterte sie.
Doch niemand hörte ihr zu. Firnis war zu sehr damit beschäftigt, sich gegen den Küchenschrank zu stemmen, um ihn zu sichern. Und Jordi war vor dem Tisch stehen geblieben und starrte wie gebannt auf die Zeichnung.
Sie ging auf Jordi zu. »Was hast du?«
»Die Zeichnung«, sagte er nur. Das war alles, was er zustande brachte. Seine Stimme war nur mehr ein Krächzen. »Du solltest dir das ansehen.«
Catalina trat vor.
Ihr Blick wanderte über die Zeichnung auf dem Tisch: das Haus der Nadeln mit seinen Spitztürmen, der Pfad – und der Kanal.
»Verstehst du jetzt?«
Herrje!
Sie hielt sich mit beiden Händen an der Tischkante fest. Ein Schwindel erfasste sie und alles um sie herum begann sich zu drehen. Es war ein Schwindel, der das, was bisher gewesen war, mit sich nahm. Ein Sog, der ihr die Wahrheit ins Gesicht schleuderte wie einen feuchten Lappen, der unsanft und rüde ihren Schlaf beendete.
»Das kann aber nicht sein.« Sie hörte ihre Stimme und sie klang wie die einer Fremden.
»Glaub mir, das ist der Grund«, sagte Jordi und legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Genauso ist es passiert. Trau deinen Augen, sie belügen dich nicht.«
»Ja.«
Nur ein ersticktes Flüstern.
Mit einem Mal schien die Küche ein weit entfernter Ort zu sein. Da war der Tisch mit der Zeichnung und Catalina erinnerte sich noch verschwommen daran, dass sie gedankenverloren den Bleistift in der Hand gehalten hatte. Die Schreie, das Splittern von Holz. Sie war vor Schreck ganz plötzlich zusammengezuckt. Der Bleistift war ihr auf der glatten Tischplatte abgerutscht und der feine Strich, den sie gerade hatte ausführen wollen, war in eine völlig andere Richtung gestoßen worden.
Sie hatte den Kanal zeichnen wollen. Den letzten Schliff hatte sie der Linie gegeben. Und nun verlief sie in eine völlig andere Richtung, dort, wo sie nicht hingehörte.
»Ich…« Die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Das, was sie gezeichnet hatte, war der Kanal. Aber nicht der Kanal, den sie gesehen hatte, sondern der Kanal, der jetzt da draußen vor dem Haus entlanglief.
»Du hast es gemacht«, hörte sie Jordi sagen.
»Nein, hab ich nicht.« Nur halbherzig kamen ihr die Worte in den Sinn. Eine schwache Lüge waren sie.
»Catalina!«
Sie sah ihn an.
»Das da draußen«, sagte er, »das bist du gewesen.«
Nein, nein, nein!
Sie hatte das Bild auf der Tischplatte gemalt und nur, weil sie mit dem Bleistift abgerutscht war, sollte sich die Welt da draußen verändert haben? Das wollte sie einfach nicht glauben. Das konnte sie nicht.
Aber jetzt hast du keine andere Wahl, wisperte es in ihr. Jetzt musst du es glauben.
Catalina wurde mit einem Mal klar, wie lange sie sich gegen den Gedanken gesperrt hatte. Seit Márquez ihr die Karte ihrer Mutter gezeigt hatte, lauerten die Fragen in ihr. Sie hatte sich einfach nur davor gefürchtet, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Die Worte des alten Márquez kamen ihr in den Sinn: »Du musst dich genau an die Vorlage halten.« Immerzu hatte er betont, dass sie nicht eigenständig zeichnen sollte. Stets hatte er sie ganz genau kontrolliert, hatte jeden Federstrich mit Argusaugen überwacht. Was hatte Sarita noch gesagt, als sie Catalina in die Windmühle gebracht hatte?
»Eines Tages wirst du wunderschöne Karten zeichnen.«
Catalina schlug die Hände vors Gesicht und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
»Deswegen«, hörte sie Jordi sagen, »wollen sie dich haben.«
Sie spürte die Tränen in den Augen.
Jordi stand vor ihr, fasste sie an den Händen. »Deswegen sind sie hinter dir her.«
Sie begann zu weinen. Nein, sie wollte das nicht, natürlich nicht. Aber die Tränen taten einfach,
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