Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
und ihn angesehen, mit ihren hellen Augen und den wirbelnden Zöpfen.
Er musste zurück zur Brücke! Pérez und Reverte würden zurückkehren, wenn sie die falsche Spur erkannt hatten. Und dann, davon war Jordi überzeugt, würde er sie kein zweites Mal täuschen können.
Noch wenige Minuten wartete er. El Cuento war nicht wieder aufgetaucht. Dann kletterte er aus dem Oleanderbusch, spähte vom Balkon aus in alle Richtungen und machte sich, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, auf den Weg zurück zu Catalina.
Der Harlekin war ihr so nah, dass sie glaubte, seinen Atem zu hören.
Catalina war so weit unter die Brücke gekrochen, wie es nur ging, doch ihr war von Anfang an klar gewesen, dass sie dem Harlekin nicht entkommen würde. Sie konnte den Stoff seines Mantels riechen, hörte, wie die Stiefel auf dem Steinboden entlangschabten. Unaufhörlich kam er auf sie zu und dann, als sie nicht weiter nach hinten zurückweichen konnte, streckte er langsam die Hand nach ihr aus. Die langen Finger waren wie Krallen, so dürr, und sie steckten in einem Handschuh aus schwarzem Samt.
Catalina wollte schreien, konnte es aber nicht. Nur ein erstickter Laut entrann ihrer Kehle.
Der Harlekin beugte sich zu ihr herab.
»Hallo«, sagte er, »ich bin Ramon.«
Hätte sie nicht schon auf dem Boden gesessen, wäre Catalina wohl umgekippt.
»Du bist Catalina Soleado.«
Nein, sie konnte keinen Laut herausbringen.
Die Stimme des Harlekin klang rau und krächzend. »Oh, die Maske«, sagte er.
Catalina spürte, wie sie nickte.
Nur so. Einfach nur nickte.
»Du hast dich erschrocken?«
War das ein Scherz? Sie nickte erneut. Das war die einzige Bewegung, zu der sie im Moment fähig war.
Der Harlekin zog sich die Maske aus. Darunter kam ein hageres Gesicht zum Vorschein, aus dessen Mitte eine lange gebogene Nase herausragte. Die Augen waren klein und sehr, sehr dunkel, aber nicht schwarz und schattig, im Gegenteil: Sie hatten einen warmen Schimmer, der wie ein verstecktes, leicht spöttisches Lächeln war. Die Haare sahen zerrupft aus wie Federn. »Ich bin Ramon Rocas«, stellte sich der Harlekin vor, der ein junger Mann aus Fleisch und Blut war. Er lächelte und schüttelte den Kopf wie ein Vogel, der getrunken hat. »Ich habe dich gesucht, Catalina Soleado.« Dann verbeugte er sich, wenn auch nur leicht, und verkündete: »Deine Großmutter schickt mich.«
Catalina wusste nicht, was sie sagen sollte. Bisher hatten ihr noch nie die Worte gefehlt, doch jetzt fiel ihr nichts mehr ein. Sie saß hier im Dreck unter der Brücke, hatte vor wenigen Augenblicken noch geglaubt, dass ihr letztes Stündlein geschlagen habe, und dann tauchte dieser seltsame Mann auf, zog sich die Harlekin-Maske vom Gesicht und schlug ihr diese Neuigkeiten um die Ohren, als sei gar nichts dabei.
Was, in aller Welt, wollte er von ihr?
»Ich habe keine Großmutter.« Immerhin war das ein klarer Satz. Aber einer, der sich nicht sehr intelligent anhörte.
»Jeder hat eine Großmutter«, widersprach ihr Ramon. Er musterte sie. »Sie hat mich gewarnt, dass du so bist.«
Wer hat dich gewarnt?, dachte Catalina, doch sie fragte: »Wie bin ich denn?«
»So.«
Sie verdrehte die Augen. Die Situation begann reichlich seltsam zu werden.
»Wer hat behauptet, ich sei so?«
»Deine Großmutter.«
»Ich habe…«
Ramon Rocas hob den Zeigefinger der rechten Hand, was äußerst belehrend wirkte. Catalina hielt mitten im Satz inne. Dann verbesserte sie sich: »Ich kenne sie nicht.«
»Natürlich nicht.«
Catalina seufzte. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie meiner Großmutter begegnet.« Sie wusste nicht einmal, wo sich eine Großmutter hätte aufhalten sollen.
»Das hat sie gesagt.«
»Was?« Die überhebliche Art des jungen Mannes begann Catalina zu ärgern.
»Dass du dich nicht daran erinnern würdest.«
»An meine Großmutter?« Das wurde ja immer seltsamer.
Er nickte.«Ja. An Nuria Niebla, deine Großmutter.«
Catalina starrte den Fremden an. Sie hatte den Namen noch nie gehört. Es gab keine Nuria Niebla in ihrem Leben, hatte niemals eine gegeben. Nicht einmal den Hauch einer Erinnerung verband sie mit diesem Namen. Nichts, rein gar nichts.
»Sie war Saritas Mutter.«
Catalina konnte das nicht glauben. Sarita hatte niemals eine Mutter erwähnt.
»Und warum kann ich mich nicht an sie erinnern?«
»Nuria Niebla glaubt, dass dir deine Erinnerungen gestohlen wurden.«
Das wurde ja immer besser.
»Von wem?«
»Kannst du dir das nicht
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