Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
gut dabei gefühlt.«
»Niemand tut das.«
Etwas in seinem Blick verriet ihr, dass es da mehr gab, als er zu sagen bereit war.
Nachdenklich musterte er sie mit schief gelegtem Kopf. Dann griff er unter seinen Mantel. Jetzt erst sah Catalina, dass er etwas an einer Kette um den Hals trug. Es war ein Stein von der Größe eines kleinen Fingers, der die Form eines Wassertropfens hatte und von einem Tiefblau war, so schimmernd wie die Wasser in der Bucht von Talamanga.
Ramon Rocas streifte die Kette über den Kopf und hielt den Anhänger hoch.
»Weißt du, was das ist?«
»Ein Stein.«
»Es ist nicht irgendein Stein, Catalina. Dies hier ist ein Aquamarin. Es ist der Stein, der all deine Erinnerungen enthält.« Er trat vor und überreichte ihn dem verdutzten und gleichsam misstrauischen Mädchen. »Wenn du ihn in die Hand nimmst, dann wird alles wieder dir gehören, alles, was man dir einst genommen hat. Bist du bereit dazu?«
Catalina glaubte ihm kein Wort. Ihre Mutter sollte ihr die Erinnerung genommen haben? Warum hätte sie so etwas tun sollen? Und doch – warum hatte ihre Mutter nie von ihrer Großmutter gesprochen?
Catalinas Blick irrte zum Kanal, der träge gegen das dunkle Ufer schwappte. Immer mehr hatte sie das Gefühl, ein kleiner Ball in einem großen Spiel zu sein. Was, wenn Ramon Rocas nur ein Betrüger war? Wenn er den Schatten dienen und ihr einen faulen Zauber vorhalten würde?
»Du traust mir nicht.« Es war eine Feststellung.
»Ich…«
Er hob die Hand. »Es ist ein Aquamarin, weil du deiner Großmutter am Meer begegnet bist. Die Liebe zum Meer hat euch beide verbunden.«
Catalina dachte an den Tod ihres Vaters.
»Ich mag das Meer nicht«, sagte sie.
»Das ist eine Lüge.«
Woher konnte der Fremde das nur wissen? Ja, es war eine Lüge. Sie liebte das Meer noch immer. Sie fürchtete sich bloß davor, ins Wasser zu springen, weil die Wellen ihren Vater begraben hatten.
»Nuria Niebla liebte das Meer«, flüsterte Ramon. »Und dein Vater hat das Meer ebenfalls geliebt. Nur deine Mutter, sie mochte es nicht.«
Catalina nickte. Alles, was er sagte, stimmte. Ihre Mutter hatte die Arbeit ihres Vaters gehasst. Das Meer ist dunkel und es ist gefährlich, hatte sie immer gesagt.
Catalina streckte die Hand aus.
Ramon Rocas, dem wirklich kleine schwarze Federn aus der Stirn wuchsen, legte den Aquamarin hinein.
Und als Catalina den warmen Stein berührte, da geschah etwas ganz und gar Außergewöhnliches. Eine Welt, die sie ganz einfach nur vergessen hatte, floss sanft leuchtend in sie hinein.
Catalina starrte den Aquamarin an und begann hemmungslos zu weinen. Die Tränen rannen ihr übers Gesicht. In der Heftigkeit eines einzigen Augenblicks waren Dinge da, von denen sie nie etwas gewusst hatte. Oder vielmehr: an die sie sich bis heute nicht mehr erinnert hatte. Das Leben lauwarmer Sommernächte, Kinderlachen und Kartoffeln mit gebratenem Fisch, Lieder und kurze Reime, erdacht von Nuria Niebla, die ihre Enkelin in den Armen hielt und sie mit Küssen bedachte, wie es nur eine Großmutter tun konnte.
»Ich habe das alles erlebt«, stammelte Catalina.
Ramon Rocas, der neben ihr kniete, sagte: »Du erinnerst dich wieder?«
Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. So viel war wieder da.
»Ich habe das erlebt, als ich klein war.« Ganz verheult betrachtete sie den Aquamarin in ihrer Hand.
Ramon Rocas beobachtete sie, während die Erinnerungen sie bestürmten. Er stand still und leise da und starrte sie mit seinen pechschwarzen Rabenaugen an. »Du musst mich anhören«, sagte er. »Und du musst mit mir kommen.«
Finsterfalter
Jordi stand da und rührte sich nicht von der Stelle. Er schnappte nach Luft, war ganz außer Atem. Gerannt war er, so schnell es nur ging, den ganzen langen, weiten Weg zurück zur Brücke, wo er gehofft hatte, Catalina anzutreffen. Er hatte sich ausgemalt, wie es sein würde, sie wiederzusehen. Er wollte sie in die Arme nehmen, ihr Haar riechen und ihr Lachen hören. Er würde ihr sagen, was er fühlte. Ja, jetzt würde er es tun. Er hätte es schon vorhin tun sollen, doch da hatte ihm der Mut gefehlt.
Aber nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte sie immerhin geküsst. Wenn er darüber nachdachte, dann konnte er nicht fassen, dass er sich das getraut hatte. Er musste an ihre wunderschönen Augen denken, an die Nase, die sie manchmal rümpfte. An die Zöpfe, die so voller Leben waren wie Catalina selbst.
Jordi seufzte.
Es gab keinen Zweifel, nicht den
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