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Malina

Malina

Titel: Malina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bachmann
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sogar hier jemand; der nicht liest, nicht lesen will; im Zustand der Unschuld zu sein, ist begreiflicher für einen Menschen, der dem Laster des Lesens verfallen ist, man sollte gar nicht lesen oder wirklich lesen können ...
    (Herr Mühlbauer hat versehentlich das Band gelöscht. Entschuldigungen von seiten des Herrn Mühlbauer. Ich bräuchte nur einige wenige Sätze zu wiederholen.)
    Ja, ich lese viel, aber die Schocks, die nachhaltigen Ereignisse sind ein einziger Blick auf eine Seite, eine Erinnerung an fünf Worte auf Seite 27 links unten: Nous allons à l’Esprit. Sind Worte auf einem Plakat, Namen auf Hausschildern, Titel von Büchern,die ungekauft in einem Schaufenster zurückbleiben, eine Annonce in einer Illustrierten, im Wartezimmer beim Zahnarzt entdeckt, eine Inschrift auf einem Denkmal, auf einem Grabstein, mir ins Aug gesprungen: HIER RUHT . Beim Verblättern im Telefonbuch ein Name: EUSEBIUS . Ich komme jetzt gleich zur Sache ... Im vergangenen Jahr las ich zum Beispiel: ›Er trug einen Menschikow‹, ich weiß nicht warum, aber ich war sofort vollkommen überzeugt, daß, wer immer dieser Mann auch war, von diesem Satz ausgehend, er einen Menschikow trägt, tragen mußte, daß es wichtig für mich war, es zu erfahren, es gehört unwiderruflich zu meinem Leben. Es wird daraus etwas entstehen. Doch zur Sache wollte ich sagen, daß ich Ihnen auch in Tag- und Nachtsitzungen nicht die Bücher aufzählen könnte, die mich am meisten beeindruckt haben oder warum, an welcher Stelle und für wie lange Zeit. Was hängenbleibt, werden Sie fragen, aber es geht doch nicht um das Hängenbleiben! nur einige Sätze, einige Ausdrücke wachen immer wieder auf im Gehirn, melden sich über Jahre zu Wort: Der Ruhm hat keine weißen Flügel. Avec ma main brulée, j’écris sur la nature du feu. In fuoco l’amor mi mise, in fuoco d’amor mi mise. To the only begetter ...
    (Winken und Erröten von meiner Seite, Herr Mühlbauer muß das sofort löschen, das geht niemand was an, ich war unbedacht, habe mich hinreißen lassen,die Zeitungsleser in Wien verstünden sowieso kein Italienisch und die meisten auch kein Französisch mehr, die jüngeren nicht, es gehöre auch nicht zur Sache. Herr Mühlbauer will es sich überlegen, er sei nicht ganz mitgekommen, Italienisch und Französisch könne er auch nicht, aber er war schon zweimal in Amerika und das Wort ›begetter‹ ist ihm auf seiner Reise nicht untergekommen.)
    5. Frage: .......?
    Antwort: Früher konnte ich mich nur bedauern, hier fühlte ich mich benachteiligt wie ein Enterbter, später lernte ich die Leute anderswo zu bedauern. Sie sind auf einem Holzweg, lieber Herr Mühlbauer. Ich bin einverstanden mit dieser Stadt und ihrer verschwindend kleinen Umgebung, die aus der Geschichte ausgetreten sind.
    (Unbehagliches Erschrecken von Herrn Mühlbauer. Unbeirrbares Weiterreden von mir.)
    Man könnte auch sagen, daß, als Beispiel für die Welt, hier ein Imperium aus der Geschichte verstoßen worden ist, mit seinen Praktiken und von Ideen verbrämten Taktiken, ich bin sehr froh, hier zu leben, denn von dieser Stelle der Welt aus, an der nichts mehr stattfindet, erschreckt es einen viel tiefer, die Welt zu sehen, nicht selbstgerecht, nicht selbstzufrieden, weil hier keine verschonte Insel ist, sondern an jeder Stelle Untergang ist, es ist allesUntergang, mit dem Untergang der heutigen und morgigen Imperien vor Augen.
    (Zunehmendes Erschrecken von seiten des Herrn Mühlbauer, mir fällt die WIENER NACHTAUSGABE ein, Herr Mühlbauer bangt vielleicht schon um seinen Job, ich muß auch ein wenig an Herrn Mühlbauer denken.)
    Ich sage immer lieber, wie man früher gesagt hat: das Haus Österreich, denn ein Land wäre mir zu groß, zu geräumig, zu unbequem, Land sage ich nur zu kleineren Einheiten. Wenn ich aus dem Zugfenster schaue, denke ich, hier ist das Land schön. Wenn es auf den Sommer zugeht, möchte ich auf das Land fahren, ins Salzkammergut oder nach Kärnten. Man sieht doch, wohin es mit den Leuten kommt, die in wirklichen Ländern wohnen, was sie auf ihre Gewissen nehmen müssen, auch wenn sie als einzelne mit den Schandtaten ihrer lautstarken, von Größe strotzenden Länder wenig oder gar nichts zu tun haben, von der Vermehrung der Macht und ihren Reserven nicht profitieren. In einem Haus beisammenzuwohnen mit anderen, das ist schon zum Fürchten genug. Aber, lieber Herr Mühlbauer, das habe ich doch gar nicht gesagt, im Moment, wo ich rede, geht es doch nicht um

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