Malka Mai
sie mit Lappen umwickelten.
»Schuhe sind in Polen nicht mehr zu kriegen«, sagte ihre Mutter. Ihre Stimme klang schuldbewusst. Geschieht ihr recht, dachte Malka. Warum musste sie unbedingt mit uns nach Ungarn? Und nach einer Weile sagte Frau Bardosz: »Ich habe leider auch keine Kinderschuhe mehr.«
Malkas Augen waren noch immer geschlossen. Sie hörte, wie Frau Bardosz das Zimmer verließ und die Tür leise zumachte, und sie hörte auch, wie ihre Mutter ins Bett stieg. Das Holzgestell knarrte, die Zudecke raschelte. »Willst du zu mir ins Bett kommen?«, fragte die Mutter.
Malka drehte sich zur Wand und gab keine Antwort. Sie wusste selbst nicht, was sie wollte, ihre Beine taten weh, ihre Fußsohlen brannten. Sie war böse auf alle, sogar auf ihre Mutter. Sie war böse auf die ganze Welt. Nur nicht auf die Katze, die unten auf der Ofenbank lag und schlief und darauf wartete, dass sie bald Junge bekommen würde.
Oktober
Hanna Mai wachte auf , als es noch dunkel in der Hütte war. Minna und Malka schliefen fest, sie hörte es an ihren ruhigen Atemzügen. Eine Weile blieb sie liegen, starrte in die Dunkelheit und wartete, dass der Schlaf wiederkommen würde, aber er kam nicht. Sie fröstelte. Die beiden Decken, die in der Hütte lagen, hatte sie gestern Abend Minna und Malka überlassen, und die Pferdedecke, die Frau Kowalska ihnen mitgegeben hatte, war zu schmutzig, um sich damit zuzudecken, die konnte man nur als Unterlage benutzen. Sie stützte den Kopf auf den Arm und betrachtete Malka, die, fest in ihre Decke gerollt, auf der Pritsche nebenan lag.
Hanna hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war, sie lebte nur nach dem Stand der Sonne und nach Gefühl, seit sie dem Schmuggler ihre Armbanduhr gegeben hatte, aber sie war hellwach. Kein Wunder, sie hatte gestern schließlich den ganzen Nachmittag verschlafen, bevor Jossel Bardosz sie hier heraufgeführt hatte. Sie stand auf und trat vor die Hütte.
Der Himmel über ihr war eine graue Kuppel. Der Mond war verschwunden, nur noch ein paar vereinzelte Sterne waren zu sehen. Im Südosten tauchte vor dem Horizont eine Bergkette auf. Die Kämme zeichneten sich dunkel und weich vor einem helleren Streifen Himmel ab. Hanna setzte sich auf die Holzbank vor der Hütte und legte die Hände in den Schoß. Es war noch kühl hier oben, ihre Füße wurden nass vom Tau. Sie streckte die Beine vor sich, dass nur noch ihre Fersen das Gras berührten, und bewegte die Zehen. Die Luft tat ihren geschundenen Füßen gut, trotz der Kälte und der Nässe. Dankbar zog sie die Strickjacke fester um sich, die ihr Frau Bardosz gestern Abend gegeben hatte, zusammen mit einem abgetragenen Paar Halbschuhe, die ihr zwar zu groß waren und die sie deshalb mit Watte ausgestopft hatte, aber besser als ihre Sommerschuhe mit den Absätzen waren sie auf alle Fälle.
Für Malka hatte es keine Schuhe gegeben, sie hatten der Kleinen Fußlappen umgebunden und darunter, statt Sohlen, mit großen Stichen Wachstuchstreifen genäht.
»Lang wird das nicht halten«, hatte Frau Bardosz gesagt. »Höchstens ein paar Tage, mehr nicht. Ich kenne mich da aus.«
Hanna massierte sich erst das eine Bein, dann das andere. Die Muskeln an Waden und Oberschenkeln taten ihr weh, ein Muskelkater, ganz normal nach solch langen Fußmärschen, trotzdem fühlte sie sich, wenigstens in diesem Moment, seltsam gelassen. Die Kinder schliefen und zum ersten Mal, seit sie geflohen waren, saß sie ganz ruhig da, ohne schon wieder den nächsten Schritt planen zu müssen. Der nächste Schritt war klar. Sie mussten dort hinunter, in das Tal, in dem der Nebel aufstieg, grau und wattig, als wäre er ein helleres Spiegelbild des Himmels.
Wenn sie genau hinhörte, konnte sie den Fluss unten im Tal rauschen hören, vielleicht war ja auch irgendwo ein Wasserfall. Die Wiese hinunter zum Fluss, hatte Jossel Bardosz gestern Abend in seinem seltsamen Polnisch gesagt. Und dann immer dem Fluss nach ins Tal, in Richtung Pilipiec. Dazwischen gibt es nur vereinzelte Höfe und ein paar Weiler. Und kurz vor Pilipiec, wenn das Tal schon sehr breit ist und man in der Ferne die Häuser der Stadt erkennen kann, kommt die Mühle. Sie können sie nicht übersehen.
Aber auch da sind wir noch nicht sicher, dachte Hanna. Wir müssen eine Gruppe finden, der wir uns anschließen können, das hat Frau Bardosz auch gesagt, alleine kommen wir nicht weit, die ungarischen Gendarmen greifen Tag für Tag polnische Juden auf und schicken sie zurück über die Grenze.
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