Malka Mai
Erst in Budapest, der großen Stadt, würde es ihnen möglich sein, in der Masse der Menschen unterzutauchen. Illegal konnte man nur in einer Großstadt leben. Aber daran wollte Hanna im Moment nicht denken, noch nicht. Die Probleme warteten unten im Tal auf sie, sie würden nicht weglaufen.
In den nahen Bäumen regten sich die ersten Vögel, ein Tschilpen da, ein Zwitschern dort, seltsame kleine Töne in einer großen Welt. Zu Hause hatten die Vögel sie manchmal beim Morgengrauen mit ihrem Lärm geweckt, hier hörten sie sich verloren an.
Hoffentlich klappt das mit Minna, dachte sie, das Mädchen ist so aufbrausend. Natürlich hat sie Recht, wenn sie sagt, dass alles nach meinem Kopf geht, aber nach wessen Kopf sollte es sonst gehen? Etwa nach Minnas? Gestern hat sie zum ersten Mal davon gesprochen, was ihr durch den Kopf geht. Nach Erez-Israel will sie also. Vielleicht wird sie es ja schaffen, stur genug ist sie, das hat sie von mir. Nur dass sie nicht so ehrgeizig ist. Vielleicht war Erez-Israel wirklich eine Möglichkeit für Minna. Irgendwann würde sie sich über die Zukunft ihrer ältesten Tochter Gedanken machen müssen, aber nicht jetzt.
Jetzt ging es nur darum, nach Budapest zu kommen. Minna war kräftig, um sie brauchte man sich keine Sorgen zu machen, um Malka schon eher. Sie war erst sieben, wenn auch groß für ihr Alter. Und sie hielt sich gut. Zu Hause war sie die verwöhnte Kleine gewesen, die Schöne, auf die jeder Rücksicht nehmen musste und auch gerne nahm, die Prinzessin eben, und auf einmal war sie ein Mensch geworden, fast erwachsen. Warum haben sie mich die ganze Zeit nichts gefragt?, dachte Hanna. Warum haben sie nicht über ihre Angst vor der Zukunft gesprochen. Oder haben sie etwa keine? Ich habe Angst. Ich habe große Angst. Aber ich will nicht an meine Angst denken, sie nützt mir nichts, die Angst würde mich lähmen, wenn ich sie zulassen würde. Wo würden sie leben können, wie, von was? Hanna schob diese Gedanken zur Seite. Irgendwie würde es schon weitergehen, wenn sie erst einmal in Budapest waren. Vielleicht ergab sich ja eine Möglichkeit, nach Amerika auszuwandern, das würde ihr besser gefallen als Erez-Israel. Aber wenn ihr nichts anderes blieb, würde sie auch dorthin gehen, um zu überleben.
Hanna zog es nicht zu ihrem Mann, sie hatten schon längst keine Ehe mehr geführt. Eigentlich war es noch nie eine richtige Ehe gewesen, so wie die Ehe ihrer Eltern oder die Ehe ihrer Schwester und ihres Schwagers. Hanna dachte an den Mann, der doch der Vater ihrer Töchter war, wie an einen Fremden. Sie wusste, genau genommen, nicht mehr, warum sie ihn geheiratet hatte. Natürlich hatte er ihr gefallen, aber ihr hatten viele gefallen. Sie hatte Kinder haben wollen, sie hatte gehofft, mit Kindern ihren strengen Vater zu versöhnen. Falls es noch weitere Gründe gegeben hatte, so hatte sie sie vergessen. Andere Männer, andere Liebschaften, waren ihr viel stärker in Erinnerung geblieben. Seltsam.
Sie überlegte, ob es ihr in Budapest gelingen würde, als Ärztin zu arbeiten, vielleicht in einem jüdischen Krankenhaus oder in einem Pflegeheim. Aber wenn das nicht ging, wäre sie auch bereit, jede andere Arbeit zu übernehmen, um den Lebensunterhalt für ihre Töchter und sich selbst zu verdienen. Wir sind nicht die ersten Juden, die ihr Zuhause verlassen mussten. Wir sind auch jetzt nicht die ersten Juden, die aus Polen geflohen sind. Frau Bardosz hat Recht.
Der Himmel war heller geworden, kein Stern war mehr zu sehen. Der Nebel stieg in dünnen Fäden aus dem Tal und kroch die Hänge herauf. Im Osten erschien ein rötlicher Streifen am Himmel, die Sonne ging auf, die Bergkämme zeichneten sich jetzt scharf und dunkel gegen das Licht ab. Die Sonne war kein Feuerball, wie Hanna erwartet hatte, auch keine glühende Scheibe, sie sah eher aus wie ein roter Nebel mit einem leuchtenden Zentrum, als sie langsam hinter den Bergen aufstieg. Das Rot wurde violett, dann grau und schließlich zu einem grünlichen Blau. Vielleicht würde es ein schöner Tag werden, obwohl man jetzt deutlich sah, dass sich im Westen Wolken auftürmten, grau und drohend.
Hanna wusste nicht, woran man hier, auf der Südseite der Karpaten, erkennen konnte, wie das Wetter werden würde. Drüben in Polen hatte sie es ziemlich genau gewusst, da war es oft wichtig gewesen, zum Himmel zu schauen, bevor sie sich auf den Weg zu Patienten machte, wenn auch nur, um zu wissen, welche Kleidung sie mitnehmen sollte.
Sie
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