Malka Mai
Weg geschützt, und aßen ihr letztes Brot. Wasser tranken sie aus einem glasklaren Bach, der ein paar Meter entfernt in den Fluss mündete und so schmal war, dass auch Malka ihn mit einem großen Schritt hatte überqueren können. Minna und Malka wären gerne noch ein wenig sitzen geblieben, aber die Mutter schaute immer wieder besorgt zum Himmel und trieb sie weiter.
Der Weg am Fluss entlang hatte sich mit zwei anderen Wegen getroffen und war zu einer unbefestigten Straße geworden. Als ihnen ein Fuhrwerk entgegenkam, versteckten sie sich im Gebüsch, bis es vorbeigerattert war. Danach gingen sie ein paar Meter oberhalb der Straße weiter, am Hang, doch das war so beschwerlich, dass sie kaum vorwärts kamen, und Malka weinte, weil der Schmerz in ihren Beinen unerträglich wurde. Außerdem war auf der Straße kein Mensch zu sehen, deshalb kletterten sie wieder hinunter. Minna nahm Malka an die Hand. Einmal begegneten sie einer alten Frau, die eine Ziege an einem Strick führte. Die Frau schaute sie nur kurz und ohne Neugier an und beantwortete noch nicht einmal ihr Nicken.
Die Sonne war längst wieder hinter Wolken verschwunden, Wind kam auf, ein kalter Westwind, der immer schneidender wurde. Malka konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Jedes Mal, wenn irgendwo ein Haus oder ein paar zusammengedrängte Hütten auftauchten, betrachtete Malka sie sehnsüchtig und hoffte, jemand würde die Tür aufmachen und sie hineinrufen, aber sie wagte nichts zu sagen, weil die Gesichter ihrer Mutter und ihrer Schwester inzwischen so düster waren wie der Himmel.
Das Tal war hier, auf ihrer Seite des Flusses, so breit, dass man die Berge kaum mehr ahnen konnte, die Bergkuppen auf der anderen Seite waren von schweren Wolken verdeckt. In der Ferne tauchten die Umrisse von Häusern auf, einzelne Kirchtürme waren zu erkennen. Das musste Pilipiec sein.
»Und wo ist jetzt die Mühle?«, fragte Minna. Sie hatte es schon ein paar Mal gefragt.
»Hör auf zu jammern«, sagte die Mutter. »Die Mühle wird bald kommen.«
Doch dann, von der Mühle war noch keine Spur zu sehen, zuckte ein Blitz über den Himmel. »Schnell«, sagte die Mutter. »Beeilt euch. Dort ist eine Brücke, da können wir uns unterstellen.«
Sie schafften es nicht. Noch bevor sie die Brücke erreicht hatten, brach ein heftiges Gewitter los, begleitet von einem wolkenbruchartigen Regen. Klatschnass kauerten sie sich unter den Steinpfeilern zusammen. Der Donner dröhnte und die Blitze drangen sogar durch Malkas geschlossene Lider. Ihr war schwindlig, ihr Kopf tat weh, ihre Augen taten weh, bei jedem Donner hatte sie das Gefühl, als schlage ihr jemand mit einem Hammer auf den Kopf. Auf einmal war ihr alles egal, sie ließ sich rückwärts auf den Boden fallen. Und dann versank sie in ein tiefes Loch, sank einfach wie in schwarze Watte und fühlte sich plötzlich ganz leicht. Sie kam kurz zu sich, als ihre Mutter ihr die eine Hand auf die Stirn legte und mit der anderen nach ihrem Handgelenk tastete, aber sie konnte die Augen nicht aufmachen.
»Sie hat Fieber«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Sie hat hohes Fieber. Minna, du bleibst hier bei ihr, ich hole Hilfe.«
»Aber das Gewitter«, wandte Minna ein, »der Regen …«
Was für ein Gewitter?, dachte Malka. Was für ein Regen?
»Nass bin ich sowieso schon«, sagte die Mutter. »Nimm sie fest in den Arm und halte sie warm, so gut es eben geht.«
Malka spürte, wie ihre Schwester die Arme um sie legte und sie zu sich auf den Schoß zog, dann versank sie wieder in der schwarzen, angenehmen Watte.
Hanna Mai lief durch den Regen , auf die Stadt zu. Sie rannte, als wolle sie ihre Angst mit den Füßen tottreten. Die Kleine war krank, kein Wunder bei diesem Dreck überall, die Anstrengung war zu viel für das Kind, diese Hitze am Tag und die Kälte bei Nacht, sie hätte Malka vielleicht doch bei Frau Kowalska lassen sollen. Cella fiel ihr ein, die Tochter eines polnischen Bauern, die im Winter an Lungenentzündung gestorben war, sie war ungefähr so alt gewesen wie Malka. Sie dachte auch an die Kinder, die letztes Jahr der Grippeepidemie zum Opfer gefallen waren. Kinder und alte Leute, die einen hatten noch nicht genug Reserven, die anderen hatten sie nicht mehr. Gott, dachte sie, wenn es dich gibt, darfst du das Kind nicht sterben lassen, nicht Malka, bitte, nicht meine schöne Malka. Sie weinte, ohne es zu merken, die Nässe auf ihrem Gesicht hielt sie für Regen. Die Welt vor ihren Augen verschwamm.
Und
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