Malloreon 4 - Zauberin von Darshiva
fest, daß es gar nicht so übel war. Süße, schmachtende Traurigkeit hatte etwas für sich. Sie schritt mit ruhiger Würde durch die vornehmen Marmorkorridore des Schlosses in Boktor, und jeder respektierte ihre versonnene Miene. Sie schob die Möglichkeit beiseite, daß ihre Dolche ihren Teil zu diesem Respekt beitragen mochten. Tatsächlich hatte Vella seit fast einer Woche keinen Dolch mehr gezogen – das letztemal wegen eines zu plump vertraulichen Dieners, der ihre derbe Kameradschaftlichkeit für eine Aufforderung zu intimerer Freundschaft gehalten hatte. Aber sie hatte ihn nur leicht verwundet, und er hatte ihr bereits vergeben, noch bevor seine Verletzung versorgt war.
Ihr Ziel an diesem Morgen war das Privatgemach der Königin von Drasnien. In vielerlei Hinsicht verwunderte Königin Porenn sie. Die drasnische Edelfrau war zierlich und von schier unerschütterlichem Gleichmut. Sie trug keine Dolche und hob selten die Stimme, trotzdem wurde sie von ganz Drasnien und auch den anderen alornischen Königreichen geachtet. Vella hatte, ohne eigentlich so recht zu wissen weshalb, dem Vorschlag der zierlichen Königin nachgegeben, Gewänder aus lavendelfarbigem Satin zu tragen. Ein Gewand ist ein hinderliches Kleidungsstück, das die Bewegungsfreiheit der Beine einschränkt und den Busen einengt. Bisher hatte Vella immer schwarze Lederkleidung – Hose, Weste und Stiefel – bevorzugt; sie war bequem und praktisch; außerdem war sie haltbar und gab Vella dennoch die Möglichkeit, jene, die sie beeindrucken wollte, auf ihre Reize aufmerksam zu machen. Zu besonderen Anlässen hatte sie gewöhnlich ein wollenes Übergewand gewählt, das sich rasch ablegen ließ, und darunter hatte sie ein feines, durchsichtiges Untergewand aus rosa malloreanischer Seide getragen, das sich beim Tanzen an sie schmiegte. Satin, andererseits, raschelte auffällig, fühlte sich jedoch gut auf ihrer Haut an – und machte Vella auf beunruhigende Weise bewußt, daß zum Frausein mehr gehörte als zwei Dolche und die Bereitschaft, sie zu benutzen. Sie klopfte leicht an Porenns Tür. »Ja?« erklang die Stimme der Königin. Schlief die Frau denn nie? »Ich bin es, Porenn – Vella.« »Kommt herein, Kind.«
Vella knirschte mit den Zähnen. Sie war kein Kind! Seit ihrem zwölften Geburtstag war sie von zu Hause fort. Sie war ein halbes dutzendmal verkauft – und gekauft – worden und war ein viel zu kurzes, wunderschönes Jahr mit einem schlanken nadrakischen Trapper namens Tekk verheiratet gewesen, den sie wahnsinnig geliebt hatte. Doch Porenn zog es vor, sie als halb gezähmtes Füllen zu sehen, das noch dringend der Ausbildung bedurfte. Unwillkürlich milderte dieser Gedanke Vellas Ärger. Die niedliche blonde Königin von Drasnien war auf merkwürdige Weise zur Mutter geworden, die Vella nie gehabt hatte; und die Gedanken an Dolche schwanden unter dieser weisen, sanften Stimme.
»Guten Morgen, Vella«, begrüßte Porenn das Mädchen beim Eintreten. »Möchtet Ihr eine Tasse Tee?« In der Öffentlichkeit trug die Königin immer Schwarz, doch ihr Morgenrock war von blassem Rosa, und in dieser weichen Farbe sah sie sehr verwundbar aus.
»Hallo, Porenn«, grüßte Vella. »Nein, keinen Tee, danke.« Sie ließ sich in einen Sessel neben dem Diwan der blonden Königin fallen.
»Nicht plumpsen, Vella«, mahnte Porenn. »Damen tun das nicht.« »Ich bin keine Dame.« »Vielleicht noch nicht, aber ich arbeite daran.« »Warum vergeudet Ihr Eure Zeit mit mir, Porenn?«
»Nichts, was der Mühe wert ist, ist je Zeitvergeudung.« »Ich? Der Mühe wert?«
»Mehr, als Ihr denkt. Ihr seid früh auf heute morgen. Habt Ihr Sorgen?«
»Ich konnte kaum schlafen. Ich habe in letzter Zeit die seltsamsten Träume.«
»Laßt Euch von Träumen nicht beunruhigen, Kind. Träume sind manchmal die Vergangenheit, manchmal die Zukunft, doch meistens eben nur Träume.«
»Bitte hört auf, mich Kind zu nennen, Porenn«, ersuchte Vella sie. »Ich glaube, daß ich nicht viel jünger bin als Ihr.«
»An Jahren, möglicherweise, aber Jahre sind nicht der einzige Maßstab für die Zeit.« Jemand klopfte leise an die Tür. »Ja?« rief Porenn.
»Ich bin es, Eure Majestät«, meldete sich eine vertraute Stimme. »Tretet ein, Markgraf Khendon.«
Javelin hatte sich nicht verändert, seit Vella ihn das letztemal gesehen hatte. Er war nach wie vor dürr und aristokratisch und sein Lächeln spöttisch amüsiert. Er trug, wie gewöhnlich, ein perlgraues Wams und ein
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