Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
die Decke zurück, schnappte sich ihren Morgenmantel, der am Fußende lag, und war bereits zur Tür hinaus, ehe sie ihn ordentlich zusammengebunden hatte. Sie wollte gerade gegen die Tür des Nachbarzimmers pochen, hielt jedoch im letzten Moment inne. Es war nicht richtig, andere zu wecken, nur weil sie nicht schlafen konnte.
Während sie abwog, was sie als Nächstes tun sollte, zog sie die langen Haare unter dem Morgenmantel hervor. Vermutlich handelte es sich um eine Katze, die in einem leeren Raum eingesperrt war. Wenn dem so wäre, wäre es bereits das zweite Mal, dass ihr etwas Derartiges auf ihrer Reise passierte. Bei ihrer Ankunft in England war es Spätsommer gewesen; jetzt kündigte sich bereits der Herbst an, und viele Gastwirte ließen, solange das Wetter es noch zuließ, die Fenster der leeren Räume offen stehen, damit sie nicht modrig rochen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass herumstreunende Katzen sich in fremde Häuser schlichen, nicht mehr herausfanden und zum Heulkonzert ansetzten.
Wenn sie die Türklinke herunterdrückte, würde sie wissen, ob das Zimmer besetzt war oder nicht. War die Tür verschlossen, konnte sie sich noch immer beim Gastwirt beschweren. Wenn sich die Tür öffnen ließ, konnte die Katze an ihr vorbeistürmen und den Gang hinunterrasen, und das Problem wäre gelöst.
Vorsichtig betätigte Katey den Knauf. Die Tür gab nach. Sie öffnete sie lediglich so weit, dass das gefangene Tier hinauskonnte, doch sie wartete vergeblich. Im Innern des Raumes erblickte sie ein orangefarbenes Glühen, das vermutlich von einem niedergebrannten Feuer oder einer schwachen Lampe herrührte. Ein Hinweis darauf, dass der Raum von Menschen und nicht von streunenden Katzen bewohnt wurde.
Schamerfüllt schloss sie leise die Tür, blieb jedoch noch ein wenig davor stehen. Woher mochte dieses seltsame Wimmern rühren? Vielleicht war es doch ein Baby. Vielleicht waren die Eltern dermaßen an das Geräusch gewöhnt, dass es sie gar nicht mehr weckte. Da – da war es schon wieder, dieses Mal noch flehender als zuvor.
Katey entschied, noch einmal ganz kurz in das Zimmer hineinzuspähen, öffnete abermals die Tür und steckte den Kopf in den Raum. Ihr Blick fiel auf eine Lampe, die so schwach leuchtete, als kämpfe sie um ihr Überleben. Ferner machte sie ein Bett aus, unter dessen Decke zwei Menschen schliefen, von denen einer leise Schnarchgeräusche von sich gab.
Mit flinken Augen suchte sie den Boden nach einem Korb ab, in dem womöglich ein Baby lag. Sie würde, so nahm sie sich vor, die Eltern wecken, wenn sie ein Kleinkind entdeckte. Stattdessen aber blickte sie in zwei weit aufgerissene Augen, die sie flehentlich ansahen. Es waren die Augen eines geknebelten Kindes, das in die Ecke des Zimmers verbannt worden war. Ob Mädchen oder Junge, vermochte Katey nicht zu sagen. Genauso wenig konnte sie sehen, ob die Hände des Kindes gefesselt waren. Das lag an der Decke, in die das Kind eingehüllt war. Sie vermutete jedoch, dass es bewegungsunfähig war, da es keinerlei Anstalten machte, sich des Knebels zu entledigen.
Am vernünftigsten wäre es, die Tür wieder zu schließen und nach unten zu laufen, um Hilfe zu holen. Doch Katey dachte nicht im Traum daran. Sie würde das Kind befreien und sich später den Kopf darüber zerbrechen, ob sie überhaupt das Recht hatte, sich einzumischen. Ein Besuch beim örtlichen Magistrat würde Licht in die Angelegenheit bringen. Und falls das Kind dann wieder zu seinen Eltern gebracht würde, so hoffte sie zumindest, dass der Magistrat ihnen genug Angst einflößte, damit sie ihr eigen Fleisch und Blut in Zukunft besser behandelten.
Die Misshandlung von Kindern machte Katey fuchsteufelswild. Im Nu war sie bei dem Kind, ohne auch nur einen Gedanken an die schlafenden Eltern zu vergeuden. Hastig schlug sie die Decke zurück und erkannte anhand des langen kupferfarbenen Haares, dass es sich um ein Mädchen handelte. Beim zweiten Blick musste sie erkennen, dass ihm übler mitgespielt worden war, als sie vermutet hatte. Es war nicht nur an Händen und Füßen gefesselt, sondern ein langer Streifen Stoff, der zwischen ihrem Fußgelenk und dem Bettgestell verlief, sorgte dafür, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Das war also der Grund dafür, warum das arme Ding noch nicht versucht hatte, sich aus den Fesseln zu winden oder auf den Flur zu rollen.
Flink wie ein Wiesel löste Katey den Knoten des langen Streifens und hob das Kind hoch. Dieses Mal
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