Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
keiner ein Lord war.«
»Stimmt, aber du kannst nicht alle über einen Kamm scheren, nur weil einer sich danebenbenommen hat. Selbst Mister Calderon hat sich dreimal bei mir entschuldigt, weil er mich nicht einfach gehen lassen kann.«
»Schon verstanden«, murmelte Grace und stieß einen Seufzer aus. »Ich hoffe, dass die Suche nach dieser verrückten Schottin wenigstens bereits in vollem Gange ist. Die Vorstellung, dass die Befreier des Mädchens im Gefängnis sitzen, während sie fröhlich da draußen herumläuft, macht mich ganz kribbelig.«
»Sie war hier. Hat dir das niemand gesagt? Oder vielleicht sollte ich dir verraten, dass sie für unsere Inhaftierung gesorgt hat.«
Katey erklärte, was sich nach ihrer Ankunft in der Stadt zugetragen hatte, und beendete ihre Ausführung: »Kaum habe ich Mister Calderson von dem Abenteuer berichtet, deutete sie mit dem Finger auf mich, schimpfte mich eine Lügnerin und sagte, das Ganze sei meine Idee gewesen. Mir hat sie vorgegaukelt, sie wolle freiwillig ins Gefängnis gehen, um vor ihrem Mann in Sicherheit zu sein, in Wahrheit aber war sie noch immer so wütend auf mich, weil ich ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht habe, dass sie sich an mir gerächt hat.«
Graces Augenbrauen kletterten in die Höhe. »Wieso überrascht mich das nicht? Ich habe mir gleich gedacht, dass dieses Frauenzimmer einen Sprung in der Schüssel hat.«
Katey nickte. »Eine Kandidatin für die Irrenanstalt, so hat Mister Calderson es formuliert. Aber ich mache ihr keinen Vorwurf daraus, wie der heutige Tag verlaufen ist. Wenn hier einer die Schuld trägt, dann Boyd Anderson. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir die heutige Nacht nicht in einem gemütlichen Hotel in London verbringen. Da hätte er mich auch gleich selbst hier abliefern können. Mit seinen lächerlichen Anschuldigungen hat er mir das ganze Abenteuer ruiniert.«
»Ich sage es nur ungern, aber dies ist kein Abenteuer mehr. Es ist eine Tragödie.«
»Papperlapapp. Wir stecken lediglich ein wenig in der Sackgasse, mehr nicht.«
»Man könnte es auch einen Justizirrtum nennen«, warf Grace ein.
Katey, die es nicht übers Herz brachte, ihrer Magd zuzustimmen, sagte: »Auf jeden Fall ist es nervtötend, und ich bin nicht minder wütend als du, aber Mister Calderson hat mir versichert, dass er einen Mann zu den Malorys entsandt hat, um die Sache zu klären. Er meinte, mit ein wenig Glück seien wir noch heute Abend wieder auf freiem Fuß.«
Grace wusste genauso gut wie Katey, dass es sich um Wunschdenken in seiner reinsten Form handelte. Die Dämmerung hatte längst eingesetzt. Selbst wenn der Bote London heute noch erreichte, war es höchst unwahrscheinlich, dass er sofort wieder losritt, um nach Northampton zurückzukehren. Für ihn ging es um nichts, er betrachtete sie lediglich als zwei Amerikanerinnen, die im Gefängnis vor sich hin schmorten.
Es gab jedoch auch eine gute Entwicklung. Mr. Calderson ließ die beiden tatsächlich in das Haus seiner Schwester umsiedeln, was Grace aber nicht davon abhielt, sich über das ihnen zugewiesene Zimmer zu beschweren, weil es kleiner war als die Zelle, die sie bis dahin geteilt hatten. Katey fand, es reiche, wenn eine von ihnen zeterte, und gab sich große Mühe, ihren eigenen Zorn im Zaum zu halten. Die junge Frau, für die das Gefühl der Wut relativ neu war, entschied kurzerhand, sich auf das zu besinnen, was sie am besten konnte: Menschen zu unterhalten. Aus dem Grunde teilte sie ihre Fantasien bezüglich Boyd Andersons Hinrichtung mit Grace. Ein besseres Mittel, um die Wartezeit zu verkürzen, kannte sie nicht. Und tatsächlich, ihr Plan ging auf, und Grace blickte schon bald wieder etwas versöhnlicher drein. Gegen Ende ihrer Ausführungen hatte sie die Magd sogar so weit, dass sie laut lachte.
Als sie die Hoffnung endgültig begruben, noch am selben Tage entlassen zu werden, und die Lampe löschten, wurde Katey von all den eigentümlichen Gefühlen eingeholt, die im Lauf des Tages in ihrem Herzen getobt hatten. Betreten starrte sie die dunkle Decke an.
Wut … Schmerz … wie konnte dieser Boyd Anderson es wagen, sie wie eine Kriminelle zu behandeln? Er kannte sie doch! Sie war keine Fremde für ihn. Sie hatten gemeinsam den Atlantik überquert. Er hielt sie für eine verheiratete Frau, die Mutter zweier Kinder. Nein, das stimmte so nicht. Mittlerweile dachte er, sie hätte die Kinder entführt, weil er dem Irrglauben aufgesessen war, sie könnte etwas mit Judiths
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