Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
sie jedoch, dass er nicht im Geringsten den Eindruck machte, als hätte er Angst. Genau genommen strotzte er sogar vor Sturheit. So wie das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte. Vielleicht, weil er davon ausging, dass er nicht für seine Dummheit gehängt wurde, obwohl er genau dafür verurteilt worden war. Was, wenn sie sich ebenfalls an den Ort des Geschehens brachte, damit er sie sah, damit er wusste, dass er allen Grund hatte, sich zu fürchten …
»Hier stecken Sie also!«, riss Grace sie aus den Gedanken. »Hätte ich mir eigentlich denken können. Wieso bin ich nicht gleich auf die Idee gekommen, im Gefängnis nachzusehen?«
Katey hob den Blick, als die Zellentür hinter ihrer Magd zufiel.
»Freut mich, dass du deinen Humor nicht verloren hast«, sagte Katey mit einem Seufzen.
»Mache ich den Eindruck, als würde ich mich amüsieren? Glauben Sie mir, dass Gegenteil ist der Fall. Ich koche förmlich vor Wut. Gute Taten sollten eigentlich von einem guten Ende gekrönt sein.«
Das hatte Katey auch geglaubt – bis sie damit angefangen hatte, Boyd Anderson in ihrer Fantasie zu hängen. Eine gerechtfertigte Strafe zu verhängen, wenn auch nur im Geiste, hatte ihre Wut zwar nicht getilgt, aber immerhin ein wenig gedämpft. Ohne ihre Dickköpfigkeit, dessen war sie sich bewusst, wären Grace und sie längst in London. Zumindest wäre sie nicht mehr in Northampton, wo Maisie Cameron es geschafft hatte, sie ins Gefängnis zu stecken.
Doch jetzt, wo Grace hier war, war die Welt wieder in Ordnung. Die Aussage der Magd hatte den Wachtmeister sicherlich von ihrer Unschuld überzeugt. »Schön, dass du da bist. Jetzt können wir endlich hier raus und …«
»Wie kommen Sie darauf, dass alles wieder in Ordnung ist?«, unterbrach Grace sie rüde. »Ich bin ebenfalls in Arrest genommen worden. Die Polizei geht davon aus, dass ich mit Ihnen unter einer Decke stecke.«
Damit hatte Katey nun wirklich nicht gerechnet. »Das ist doch vollkommener Blödsinn. Vor allem, wenn wir beide unabhängig voneinander dasselbe aussagen.«
»Wenn dem mal so wäre«, riss Grace das Wort an sich und setzte ein argwöhnisches Gesicht auf. »Kann es sein, dass Ihre Fantasie mal wieder mit Ihnen durchgegangen ist?«
»Nein, bestimmt nicht«, antwortete Katey empört.
»Der Wachtmeister hat nicht viel wissen wollen. Mich wundert nur, dass Sie es noch nicht geschafft haben, sich den Weg aus dem Gefängnis zu reden.«
»Das habe ich«, antwortete Katey mit stolzgeschwellter Stimme. »Mr. Calderson, der Gefängnisaufseher, hat mir sogar geglaubt.«
»Das hätte ich mir denken können«, sagte Grace und rüttelte an der Tür, die zwischen ihnen und der Freiheit stand.
Kateys Blick verfinsterte sich zunehmend.
Während die Magd sich einen Augenblick in Schweigen hüllte, erklärte Katey: »Ich bin noch hier, weil Judiths Familie einen gewissen Ruf in diesem Land genießt. Mister Calderson hat den Namen sofort erkannt und gesagt, dass er mich erst dann wieder auf freien Fuß setzt, wenn er das Einverständnis der Familie hat.«
»Mit anderen Worten, Sie sind schon den ganzen Nachmittag hier?«, fragte Grace ungläubig und ließ sich neben Katey auf die Pritsche sinken. »Ich habe überall nach Ihnen gesucht. Nicht einmal, nein zweimal, weil ich davon ausging, dass wir uns um Sekunden verpasst haben mussten.«
»Hast du denn nicht den Gastwirt gefragt?«
»Selbstredend habe ich das.«
»Dann hätte dir früher einfallen müssen, hier nachzusehen. Er hat nämlich gesehen, wie man mich fortgezerrt hat. Hat er dir gegenüber nichts davon erwähnt?«
»Das hätte er wahrscheinlich, aber er war gar nicht im Hause, als ich bemerkt habe, dass Sie nicht da sind. Seine Frau, die seinen Posten übernommen hatte, meinte, Sie wären ihr nicht untergekommen.«
»Das kann sein, weil ich nämlich gar nicht in Northampton war. Dieser vermaledeite Amerikaner, der Judith zu Hilfe geeilt ist, war der wahnwitzigen Idee erlegen, mich nach London zu schleifen, wo ich mich vor den Malorys verantworten sollte. Wenn ich nicht aus dem Fenster geklettert wäre, um …«
Grace sprang auf und unterbrach sie. »Können Sie nicht einmal bei der Wahrheit bleiben? Ich verlange hier und jetzt zu erfahren, was sich wirklich zugetragen hat.«
Katey stieß sich nicht an den Worten ihrer Magd. Es war nur verständlich, dass Grace außer sich war. Sie hatten sich nichts zuschulden kommen lassen, und dennoch saßen sie beide im Gefängnis. Hinzu kam, dass Katey so oft die
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