Malory
Clinton rollte mit den Augen. Es schien, als hätten sie alle im Moment Georgina vollkommen vergessen. Ihr jedoch sträubte sich angesichts dieser Unverschämtheit das Gefieder, und sie war nahe daran, Warren diese ach so wertvolle Vase doch noch an den Kopf zu knallen.
»Frauen im allgemeinen, mag sein, aber Schwestern fallen nicht in diese Kategorie«, versuchte Drew das Ganze etwas abzuwiegeln. »Sag mal, Warren, was ist denn in dich gefahren?«
Anstelle von Warren antwortete Boyd: »Er ist erst gestern angekommen, aber als er erfuhr, was passiert war, ließ er schnurstracks sein Schiff wieder flottmachen und wollte heute nachmittag absegeln - Richtung England.«
Georgina fand als erste die Sprache wieder. »Wolltest du mich tatsächlich suchen, Warren?«
Die Narbe an seiner rechten Wange zuckte. Offenbar war es ihm peinlich zuzugeben, daß er sich am meisten von allen Sorgen gemacht hatte, aber er antwortete nicht.
Sie brauchte auch keine Antwort. »Das ist das netteste, was du jemals für mich getan hast, Warren Anderson.«
»Zum Teufel!« brummte er.
»Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt«, grinste sie. »Es weiß ja nur die Familie, daß du gar nicht so kalt und gefühllos bist, wie du dich gerne darstellst.«
»Grün und blau schlag ich dich, Georgie, das verspreche ich dir.«
Georgina nahm diese Warnung nicht ernst, denn es steckte kein bißchen Wut mehr dahinter. Sie schenkte ihm nur ein Lächeln, das ihm zeigen sollte, daß auch sie ihn liebte.
In die Stille hinein erkundigte sich Boyd bei Drew etwas verspätet: »Was zum Teufel soll das heißen, sie hätte schon genug gelitten?«
»Sie hat ihren Malcolm gefunden.«
»Und?«
»Siehst du ihn hier irgendwo?«
»Du meinst, er wollte sie nicht mehr?« fragte Boyd fassungslos.
»Viel schlimmer«, schnaubte Drew. »Der Herr ist bereits seit fünf Jahren verheiratet.«
»Dieser Schweinehund!«
So wütend, wie ihre Brüder auf Malcolm reagierten, konnte sich Georgina lebhaft vorstellen, wie sie erst über James zu Gericht sitzen würden, wenn die Zeit für ihr großes Ge-ständnis gekommen war. Sie wollte lieber nicht daran denken.
Die Brüder waren noch immer nicht mit Malcolm fertig, die glühendsten Schmähreden flogen hin und her, als plötzlich der mittlere Bruder zur Tür hereinkam. »Das gibt's doch nicht«, rief er in die Runde. »Wir alle fünf einmal gleichzeitig zu Hause? Teufel auch, seit dem letzten Mal sind bestimmt schon zehn Jahre vergangen.«
»Thomas!« rief Clinton überrascht aus.
»Mensch Tom, du bist wohl in meinem Kielwasser gesegelt«, meinte Drew.
»So ungefähr«, schmunzelte er. »Ich hab dich an der Küste Virginias gesichtet, aber bald wieder aus den Augen verloren.« Dann wandte er sich an Georgina, überrascht, sie hinter Clintons Schreibtisch sitzen zu sehen. »Na, krieg ich keinen Willkommenskuß, Schätzchen? Du bist mir doch nicht etwa noch böse, weil sich deine Reise nach England verzö-
gert hat?«
Böse? Sie war plötzlich stinksauer auf ihn. Das war typisch für ihn, keine Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen und zu glauben, alles wäre in schönster Ordnung, wenn er nur wieder zu Hause ist.
»Meine Reise?« kam sie wütend auf ihn zu, die Vase achtlos unter dem Arm geklemmt. »Ich wollte nicht nach England fahren, Thomas. Ich habe dich darum gebeten, angefleht habe ich dich, dorthin zu fahren. Aber du wolltest ja nicht.
Meine kleinen Sorgen waren ja unwichtig, ließen sich nicht mit deinem verdammten Zeitplan vereinbaren!«
»Beruhige dich, Georgie«, sagte er in seiner gelassenen Art. »Jetzt bin ich bereit zu fahren, und du bist herzlich eingeladen mitzukommen, wenn du möchtest.«
»Zu spät«, meinte Drew trocken.
»Wofür?«
»Sie war bereits in England.«
»Verdammt, Georgie!« Seine limonengrünen Augen weiteten sich vor Erstaunen und blieben an Georgina hängen.
»Du kannst doch nicht so töricht gewesen sein ...?«
»Warum nicht?« schnappte sie zurück, doch dann füllten sich ihre Augen ganz plötzlich mit Tränen. »Es ist allein deine Schuld, daß ich - daß ich ... hier bin!«
Mit voller Wucht schleuderte sie ihm die Vase entgegen und rannte aus dem Zimmer. Daß sie wegen diesem herzlo-sen Schuft namens Malory auch noch Tränen vergießen mußte! Sie hinterließ ein heilloses Durcheinander - aber nicht wegen der Tränen, die interessierten im Augenblick niemanden.
Thomas fing die Vase gerade noch auf, aber gleichzeitig waren vier ausgewachsene Männer vorgehechtet und
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