Malory
Visier genommen. Was hat ihn denn diesmal in Harnisch gebracht?«
»Wenn ich das wüßte, könnte ich die Sache entschärfen, aber ich stehe vor einem Rätsel. Ich habe James über eine Woche lang nicht zu Gesicht bekommen, nachdem ich seine Tochter nach unserem Ausflug mit Judith bei ihm abgeliefert hatte.«
»James hätte mir aber Bescheid gegeben, wenn er ver-hindert wäre«, wandte Jason ein. »Also, wenn er hier erscheint, dann tragt eure Auseinandersetzungen freundlicherweise im Freien aus. Molly würde es nicht gerne sehen, wenn die Teppiche mit Blut besudelt würden.«
Keinem erschien es merkwürdig, daß er die Haushälterin von Haverston beim Vornamen nannte. Schließ-
lich hatte Molly Fletcher diese Stellung schon seit mehr als zwanzig Jahren inne. Daß es sich dabei auch um Jasons langjährige Geliebte und Dereks Mutter handelte, war nicht jedem Mitglied der Familie bekannt.
Eigentlich hatten nur wenige Angehörige die Wahrheit erfahren oder erraten. Als einzigen hatte Jason seinen Sohn Derek vor sechs Jahren in das Geheimnis eingeweiht.
Und an jenem Weihnachten hatte Jason einen Skandal heraufbeschworen, obwohl ihm dergleichen innerhalb der Familie verhaßt war, und in die Scheidung eingewilligt, die seine Frau Frances wünschte. Tatsächlich aber hatte sie die Trennung mit der Drohung erzwun-gen, alles, was sie über Molly wußte, preiszugeben.
Seitdem aber ist Molly Haushälterin geblieben. Nachdem Derek die Wahrheit erfahren hatte, ließ Jason nichts unversucht, um Molly zu einer Heirat zu bewegen, aber das hatte sie ihm bis zum heutigen Tag abge-schlagen.
Molly stammt nicht aus einer adligen Familie. Sie war Zimmermädchen, als sich Jason und sie vor mehr als dreißig Jahren ineinander verliebten. Obwohl er bereit war, sich über sämtliche Konventionen hinwegzuset-zen und einen der schlimmsten Skandale heraufzube-schwören, wenn er als Lord eine Bürgerliche heiratete, so ließ sie es dennoch nicht zu.
Jason seufzte bei dem Gedanken an Molly. Letztendlich mußte er zu dem Schluß kommen, daß sie ihm nie die Antwort geben würde, die er sich so sehr wünschte. Das hieß aber nicht, daß er aufgab, nein, keineswegs.
Amys Stimme brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. »Unsere Zwillinge haben eine kleine Eigenart entwickelt. Ein merkwürdiges Verhalten. Wenn Stuart die Aufmerksamkeit Warrens auf sich lenken möchte, könnte ich für ihn genausogut eine Fremde sein. Er übersieht mich völlig, und umgekehrt, wenn er meine Aufmerksamkeit haben möchte, ist Warren bei ihm abgeschrieben. Und Glory macht es ebenso.«
»Wenigstens tun sie es gleichzeitig«, ergänzte Warren, der endlich angekommen war, die Arme nach Stuart ausstreckte und Gloriana Amy übergab.
»Ich will Onkel James und Tante Georgina fragen, ob sie mit ihren Kindern die gleichen Schwierigkeiten haben«, erklärte Amy mit einem Seufzer.
»Hat er sich schon an die Zwillinge gewöhnt?« erkundigte sich Jason bei Anthony, da Anthony ihn sehr häufig sah und Jason nicht so oft nach London kam.
»Natürlich hat er sich schon an sie gewöhnt«, versicherte Anthony der Familie.
Und doch erinnerten sich alle noch an seine Reaktion, als Amy Zwillinge geboren hatte und er von seiner Frau Georgina daraufhin sofort wissen wollte, wer Warrens Schwester war und woher sie kam. »Großer Gott, George, du hättest mich warnen können, daß es in eurer Familie in jeder zweiten Generation Zwillinge gibt. Wir werden jedenfalls keine bekommen, ist das klar?«
Georgina war damals selbst schwanger, und was hatte sie zur Welt gebracht? Zwillinge.
Ja, die Malorys zu Weihnachten zu Hause zu haben, sinnierte Jason, erfreute das Herz. In seinem Leben fehlte nur eines, um es vollkommen zu machen.
Kapitel Zwei
M olly, die Haushälterin, war für gewöhnlich nicht anwesend, wenn die Malorys ihre Mahlzeiten einnah-men, doch heute machte sie eine Ausnahme, um ein neues Mädchen einzuweisen, das zum ersten Mal ser-vierte. Nur durch lange Übung war es ihr gelungen, die Augen von Jasons gutgeschnittenem Gesicht fern-zuhalten. Vielleicht fürchtete sie immer noch ein wenig, sich zu verraten, wenn sie ihn zu lange anblickte, aber manchmal konnte sie ihre Gefühle einfach nicht unterdrücken, und sie hatte eine Reihe von Gefühlen, wenn Jason Malory ins Spiel kam.
Nein, so groß war ihre Furcht nun doch nicht, sich zu verraten. Es war neuerdings eher umgekehrt. Er gab zuviel preis, wenn er sie ansah, und es schien ihm gleichgültig zu sein, ob es einer
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