Malory
war. Im Salon herrschte inzwischen eine solche Hitze, daß sie am liebsten ins Freie gegangen wäre, aber das wagte sie nicht, nachdem ihre Flucht in den Garten der Crandals zu der ersten Begegnung mit Anthony geführt hatte. Daß sie ihn nach dem Zwischenfall im Wintergarten nicht mehr gesehen hatte, besagte noch lange nicht, daß er sich nicht irgendwo in der Nähe herumtrieb.
Sie überlegte gerade, ob sie Frances suchen und ins Freie schleppen sollte, um sich etwas Abkühlung verschaffen zu können, als sie hinter sich eine Bewegung wahrnahm.
»Amüsieren Sie sich, Lady Roslynn?«
Sie erkannte James Marlorys Stimme und befürchtete, daß sein Bruder bei ihm sein könnte. Doch als sie sich umdrehte, stellte sie erleichtert fest, daß er allein war. Er kam offenbar von draußen, denn sein goldfarbenes Haar war vom Wind leicht zerzaust. Ihre Erleichterung hielt allerdings nicht lange an, denn seine Blicke brachten ihr deutlich in Erinnerung, daß sie ihn bei der ersten Begegnung als rücksichtslos und gefährlich eingeschätzt hatte, und an dieser Meinung hatte sich nichts geändert, obwohl sie nach wie vor glaubte, daß ihr persönlich Anthony gefährlicher werden könnte.
Sie nickte. »Ja, dank Ihrer Nichte fühle ich mich hier wie zu Hause. Ich war allerdings sehr überrascht zu hö-
ren, daß sie Ihre Nichte ist. Sie muß wohl die Tochter eines Ihrer älteren Brüder sein, nehme ich an?«
»Die Tochter unserer einzigen Schwester Melissa«, be-richtigte er. »Sie starb, als Regan noch ein Baby war, und so hatten meine Brüder und ich das Vergnügen, sie zu erziehen.«
Roslynn gewann den Eindruck, daß es den vier jungen Männern tatsächlich Freude gemacht hatte, sich um das Kind
ihrer
verstorbenen
Schwester
zu
kümmern,
und
dieser sympathische Zug ließ auch James weniger bedrohlich
erscheinen,
allerdings
nur,
bis
er
unerwartet
vorschlug:
»Wie
wär's
mit
einem
kleinen
Spaziergang
zum See?«
Sie war sofort auf der Hut. »Nein, danke.«
»Dann wenigstens ein paar Schritte ins Freie. Sie sehen so aus, als könnten Sie etwas frische Luft gebrauchen.«
»Keineswegs. Mir ist sogar etwas kühl, und ich wollte mir gerade einen Schal holen.«
James
schmunzelte
über
diese
ungeschickte
Ausrede.
»Mein liebes Kind, die Schweißperlen auf Ihrer Stirn strafen Ihre Worte Lügen. Kommen Sie mit. Sie brauchen vor mir wirklich keine Angst zu haben. Ich bin in jeder Hinsicht völlig harmlos.«
Als er nach ihrem Ellbogen griff und sie hinausführte, hatte Roslynn das beklemmende Gefühl, ein zweites Mal auf den Weg ins Verderben geführt zu werden. Nur hatte sie nicht einmal die Möglichkeit, James unterwegs zum Stehenblieben zu zwingen, wie sie es bei Anthony getan hatte, als er sie in den Wintergarten entführen wollte.
Nur
zwei
Schritte,
und
schon
waren sie
im
Freien. Ihr war gar keine Zeit geblieben sich loszureißen, aber das hätte James bestimmt ohnehin zu verhindern gewußt. Anstatt weiterzugehen, zog er sie nun neben die Tür, drückte sie an die Wand und erstickte ihren leisen Aufschrei mit seinem Mund.
Er hatte sie mit unglaublichem Geschick in diese Falle gelockt, und sie wagte nicht, laut zu protestieren oder um Hilfe zu rufen, denn sie konnte sich nun einmal kein Gerede leisten. Ihr blieb deshalb nur die Möglichkeit, sich stumm zur Wehr zu setzen, aber es gelang ihr nicht, ihn wegzustoßen. Sein breiter, massiver Brustkorb rühr-te sich genausowenig von der Stelle wie die Mauer hinter ihr. Und dann versuchte sie gar nicht mehr, sich zu befreien. Das Blut pochte in ihren Schläfen, und obwohl sie sich einreden wollte, daß das nur an ihrer Angst vor Entdeckung lag, wußte sie es in Wirklichkeit besser: James küßte sie genauso, wie sein Bruder es getan hatte, und ihr einziger Hoffnungsschimmer bestand darin, sich immer wieder vorzusagen, daß es nicht Anthony war, der sie an sich drückte.
»Sie und Ihr Bruder geben sich offenbar gegenseitig Unterricht«, zischte sie, als er seinen Mund endlich von ihren Lippen löste.
James
lachte
trotz
seiner
Enttäuschung.
»Finden
Sie,
kleine Schottin? Wie kommen Sie nur darauf?«
Sie errötete heftig, als ihr bewußt wurde, daß sie damit zugegeben hatte, auch von Anthony geküßt worden zu sein. Hastig ging sie in die Offensive: »Ist das Ihre Vorstellung von Harmlosigkeit?«
»Ich habe gelogen«, gab er ohne das geringste Anzei-chen von Reue zu.
»Das kann man wohl sagen! Lassen Sie mich sofort vorbei, Lord
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