Malory
verliehen der Gasse ein düsteres Aussehen. Roslynn beugte sich aus dem Fenster und sah, daß die Gasse an beiden Enden in helle Straßen mündete, wo lebhafter Verkehr herrschte. Auch Fußgänger waren dort unterwegs - ein Kind rannte vorbei, ein Seemann schlenderte Arm in Arm mit einer aufgetakel-ten Frau dahin. Wenn sie laut genug schrie, würde sie wahrscheinlich
jemanden
auf
sich
aufmerksam
machen
können. Aber dann würde auch Mrs. Pym sie hören.
Roslynn hastete zum Bett, zog mit einem Ruck das grobe Leintuch hervor und eilte damit ans Fenster zurück.
Sie beugte sich weit hinaus und schwenkte es wie eine Fahne, bis sie vor Anstrengung keuchte und lahme Arme hatte. Nichts! Falls jemand ihr Tun beobachtet hatte, so dachte er wohl, daß sie das Leintuch nur gründlich ausschütteln wollte.
Und dann hörte sie das Fahrzeug, noch bevor sie es langsam in die Gasse einbiegen sah. Sie hatte plötzlich rasendes Herzklopfen. Es war ein mit Fässern beladener Wagen, und der Fuhrmann pfiff vergnügt vor sich hin, während er sein Maultier lenkte.
Roslynn ließ das Leintuch auf den Boden fallen und schwenkte statt dessen ihre Arme. Doch sie erkannte rasch, wie gering die Chance war, daß er sie überhaupt bemerkte. Er trug einen breitkrempigen Hut, der ihm die Sicht nach oben versperrte, und er hatte ja auch keinen Grund, in die Höhe zu blicken. Sie machte verzweifelt Pssst, pssst, um ihm doch noch auf sich aufmerksam zu machen, aber der Karren machte auf dem Kopfsteinpfla-ster einen solchen Lärm, daß nicht einmal lautes Rufen zu hören gewesen wäre. Und als ihr endlich einfiel, daß sie den Krug hinunterwerfen könnte, hatte der Wagen sich schon ein ganzes Stück von ihrem Fenster entfernt.
Sie lehnte sich mutlos an die Wand neben dem Fenster. Nein, so ging es nicht. Selbst wenn der Fuhrmann sie gesehen hätte - wie hätte sie sich ihm im Flüsterton verständlich machen sollen? Und wenn sie lauter redete, würde sie Mrs. Pym alarmieren.
Verdammt, konnte sie denn wirklich gar nichts tun?
Der Krug würde ihr nichts nutzen, denn Geordie würde bestimmt in Begleitung des Geistlichen und seiner Männer kommen. Schließlich wurden für die Zeremonie ja auch Zeugen benötigt.
Ihr graute allein schon bei der Vorstellung, mit Geordie verheiratet zu sein, und sie wurde von ihren düsteren
Zukunftsvisionen
so
in
Anspruch
genommen,
daß
sie das zweite Fahrzeug erst hörte, als es fast schon zu spät war. Als sie ans Fenster stürzte, war der Heuwagen nur noch ein kleines Stück entfernt. Der Fuhrmann trieb die beiden Mähren, die den Wagen zogen, mit lauten Flüchen an und gestikulierte dabei wild mit einer Ginfla-sche. Er würde sie bestimmt nicht hören, und er war schon so nahe!
Roslynn faßte blitzschnell ihren Entschluß. Eine weitere Chance würde sich ihr vielleicht nicht bieten. Sie durfte nur nicht an die möglichen Folgen denken, denn dann würde ihr der Mut zum Handeln fehlen. Sie kletterte rasch auf das Fensterbrett, wartete, bis der Wagen direkt darunter war, und sprang in die Tiefe.
Kapitel 14
Im Fallen schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, daß dies eine reine Verzweiflungstat gewesen war. Sie sah ih-re Füße in die Höhe fliegen und versuchte instinktiv, mit den Händen irgendwo Halt zu finden. Sie wußte, daß sie im nächsten Moment sterben würde, und in dieser letzten Sekunde verfluchte sie Geordie. Indem sie den Tod einer Ehe mit ihm vorzog, würde sie seinem Selbstver-trauen einen gewaltigen Stoß versetzen, und das verschaffte ihr eine gewisse Befriedigung, wenn es sie auch keineswegs mit ihrem Schicksal versöhnte, denn sterben würde sie, und dieser habgierige Schurke würde wahrscheinlich
eine
gefälschte
Heiratsurkunde
vorlegen,
um
doch noch an ihr Vermögen heranzukommen.
Sie landete mit voller Wucht auf dem Rücken. Der heftige Aufprall raubte ihr den Atem, und sie wurde ohnmächtig. Ein heftiger Ruck des Wagens ließ sie wieder zu sich kommen. Sie stöhnte, überzeugt davon, mindestens ein Dutzend Knochen gebrochen zu haben. Doch beim nächsten Ruck verspürte sie keine Schmerzen. Unglaublich, etwas so Törichtes getan zu haben und unverletzt davongekommen zu sein. Sie mußte einen ganz beson-deren Schutzengel gehabt haben, wie man es Kindern und Narren ja nachsagte, und eine größere Närrin als sie konnte es gar nicht geben. Sie hätte sich leicht den Hals brechen können, das wußte sie genau. Sie konnte nur Gott danken, daß dieser Wagen Heu transportierte und
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