Malory
keine harten Gegenstände.
Der betrunkene Fuhrmann hatte nicht einmal gemerkt, daß er einen Fahrgast bekommen hatte. Entweder er hatte bei ihrem lauten Aufprall geglaubt, der Wagen wäre in ein besonders tiefes Loch im Pflaster geraten, oder aber er war taub.
Sie war tief im Heu versunken, aber sicherheitshalber vervollständigte sie die Tarnung, indem sie mit beiden Händen Heu über ihren ganzen Körper streute. Keinen Augenblick zu früh, denn der Wagen bog von der dunklen Gasse in die lichtdurchflutete Straße ein, und Roslynn kam erst jetzt mit Schrecken zu Bewußtsein, daß sie nur ein dünnes, weißes Baumwollnachthemd trug und barfuß war.
Immerhin konnte sie sich glücklich schätzen, daß sie am Vorabend nicht in einem der verspielten Negligés zu Bett gegangen war, die zu ihrer Aussteuer gehörten. Es war
ein
züchtiges
Nachthemd,
bodenlang,
mit
langen
weiten Ärmeln und Manschetten. Wenn sie etwas fand, das als Gürtel dienen konnte, würde man es bei flüchti-gem Hinsehen vielleicht sogar für ein Kleid halten können.
Unglückseligerweise
blieb
Roslynn
wenig
Zeit,
dar-
über nachzudenken, wie sie ohne Geld nach Hause gelangen sollte. Der Wagen rollte in einen Stall und blieb stehen, und sie konnte gerade noch rechtzeitig hinaus-springen und sich in einer leeren Box verstecken, bevor der Fuhrmann nach hinten kam und das Heu abzuladen begann. Er erhielt gleich darauf Hilfe von einem großen, kräftigen
Kerl,
der
ihn
mit
freundschaftlichen
Flüchen
bedachte, weil er sich verspätet hatte.
Roslynn
konnte
sich
währenddessen
einen
Schlacht-
plan zurechtlegen. Sie hatte wieder Glück gehabt, denn ein Stall war der ideale Ort, um an ein Pferd heranzukommen. Zwar hatte sie noch immer keine Ahnung, in welchem Stadtteil sie sich befand, aber sich nach Mayfair durchzufragen
konnte
nicht
allzu
schwierig
sein.
Das
Dumme war nur, daß der einzige Wertgegenstand, den sie bei sich hatte, das Kruzifix ihrer Mutter war, das sie nur ablegte, wenn sie sich mit ihren kostbaren Juwelen schmückte. Undenkbar, sich davon zu trennen! Aber ihr blieb wohl keine andere Wahl, es sei denn, sie wäre nicht weit von Mayfair entfernt. Dann könnte sie zur Not auch zu Fuß gehen.
Doch schon im nächsten Moment erkannte sie, daß das keine gute Idee war. Sie hatte vorhin auf der Straße keine einzige
Kutsche
gesehen,
nur
Fuhrwerke,
Trunkenbolde
und Matrosen mit ihren Liebchen. Was für ein Stadtteil dies auch sein mochte - ein vornehmes Viertel war es jedenfalls nicht, und wenn sie sich zu Fuß auf den Heimweg machte, würde sie unweigerlich in Schwierigkeiten geraten. Nein, sie mußte unbedingt ein Pferd mieten.
Der Gedanke, daß Geordie ihre Flucht bereit bemerkt haben könnte und die ganze Umgebung nach ihr absuch-te, verwandelte sie in das reinste Nervenbündel, während sie darauf wartete, daß der betrunkene Fuhrmann mit
seinem
Heuwagen
endlich
verschwand.
Sie
wollte
mit
dem
anderen
Mann
unter
vier
Augen
sprechen,
denn je weniger Leute sie in diesem Aufzug sahen, desto besser. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, welchen Skandal es gäbe, wenn etwas davon an die Öffentlichkeit kä-
me. Lady Chadwick spaziert im Nachthemd durch die Slums.
Die vornehme Gesellschaft würde sich begierig auf diese Sensation stürzen, und dann könnte sie jede Hoffnung auf eine passende Partie in absehbarer Zeit aufgeben.
Trotzdem kostete es sie große Überwindung, ihr Versteck zu verlassen, als sie endlich mit dem Mann allein war.
Sich
jemandem
im
Nachtgewand
präsentieren
zu
müssen,
war
eine
schreckliche
Vorstellung,
und
ihre
Verlegenheit
stieg
ins
Unermeßliche,
als
der
stämmige
Kerl
sie
mit
weitaufgerissenen
Augen
und
offenem
Mund
anstarrte.
Sie
versuchte
erfolglos,
einen
nackten
Fuß hinter dem anderen zu verstecken, und kreuzte ihre Arme über der Brust. Die langen Haare, in denen sich Heu verfangen hatte, hingen ihr wirr über die Schultern.
Sie bot
einen
überaus
reizvollen
Anblick,
obwohl
sie
selbst das nicht für möglich gehalten hätte.
Der Mann stand wie angewurzelt da und starrte sie hingerissen
an
wie
eine
himmlische
Erscheinung.
Sein
braunes Haar war mit grauen Strähnen durchzogen, und graue Bartstoppeln bedeckten sein breites Kinn. Roslynn wußte nicht, ob der Stall ihm gehörte, oder ob er nur ein Angestellter war, aber das spielte auch keine Rolle. Er war jedenfalls der einzige Mensch, der ihr im Augenblick helfen
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