Malory
Das Schweigen hatte nichts Bedrückendes an sich, und Roslynn fühlte sich wohlig müde.
Ihr war nicht ganz verständlich, warum sie ihre Hochzeitsnacht nicht auf Silverley verbrachten, wie sie ange-nommen hatte. Anthony hatte etwas von seinem eigenen Bett und von einem richtigen Anfang gemurmelt, auch etwas von Lärm, wegen dem er sich keine Vorwür-fe machen wollte. Das hatte sich in ihren Ohren irgendwie bedrohlich angehört, was ihr jetzt unbegreiflich war.
Bestimmt
hatte
es
nur
an
ihrer
Nervosität
gelegen.
Schließlich hatte sie auf ihre Freiheit verzichtet und sich einem Mann in die Hand gegeben, den sie kaum kannte und der voller Überraschungen steckte, wie er ja mit seinem impulsiven Heiratsantrag bewiesen hatte.
O ja, sie hatte allen Grund zur Nervosität gehabt, vor der Zeremonie und danach. Hatte er sie nicht auch heute gleich zweimal überrascht, zum einen mit seinem Zorn über ihre Bedingungen und zum anderen, indem er den Ehevertrag unterschrieben hatte, ohne ihn gelesen zu haben? Nicholas, der bei der Unterzeichnung als Zeuge zu-gegen war, hatte dagegen protestiert, ebenso auch Roslynn. Aber sogar nach der Unterzeichnung hatte Anthony sich geweigert, das verdammte Ding zu lesen. Und jetzt brachte er sie nach London zurück, womit sie für diese Nacht überhaupt nicht gerechnet hatte.
Sie wäre eigentlich lieber bei den Edens geblieben.
Aber für einen Tag hatte sie schon mehr als genug Forderungen gestellt und deshalb nicht protestiert, als Anthony
nach
einer
kurzen
Hochzeitsfeier
zum
Aufbruch
drängte. Gewiß, sie hatten früh zu Abend gegessen, und die Trauung war im Nu vorüber gewesen. Es war jetzt noch nicht allzu spät, obwohl sie Anthonys Stadthaus wahrscheinlich
erst
gegen
Mitternacht
erreichen
wür-
den.
Sie dachte, daß es wohl vernünftig wäre, während der Fahrt ein wenig zu schlafen, und unwillkürlich spielte ein Lächeln um ihre Lippen, denn beim Anblick der Kissen und Decken auf den Sitzen hatte sie zunächst nicht an Schlafen gedacht. Die Vorstellung, daß sie ihre Hochzeitsnacht in der Kutsche verbringen würden, hatte sie erschreckt, aber auch erregt. Nettie war schließlich in ei-ne kleinere und langsamere Kutsche verbannt worden.
Sie waren zu zweit allein in einer Kutsche, die so groß war, daß man darin alles mögliche treiben könnte. Die gelbe Lampe spendete ein weiches, romantisches Licht.
Doch nein, Anthony hatte nur vorgeschlagen, daß sie während der Rückfahrt nach London schlafen solle. Er hatte sie nicht einmal geküßt, sondern nur fest an sich gezogen.
Wahrscheinlich war der Champagner schuld an ihrer Idee, die Hochzeitsnacht könnte in der Kutsche beginnen. In Wirklichkeit konnte sie nicht einmal sicher sein, daß
sie
überhaupt
eine
Hochzeitsnacht
erleben
würde.
Nachdem Anthony sich wegen ihrer Bedingungen so angestellt
hatte,
wäre
sie
nicht
einmal
sehr
überrascht,
wenn er sie nur vor seinem Haus absetzte und gleich zu einer seiner vielen Geliebten weiterfuhr. Was könnte sie in diesem Fall schon sagen? Sie hatte ihn ja selbst vor die Tür gesetzt, wie er es ausgedrückt hatte.
Anthony hörte seine Frau seufzen und fragte sich, woran sie wohl dachte. Wahrscheinlich dachte sie sich neue
Möglichkeiten
aus,
gefühlsmäßige
Bindungen
in
dieser Ehe zu vermeiden. Es war wirklich lachhaft, aber anfangs hatte er es nicht so gesehen. Da hatte er nun zum erstenmal in seinem Leben den Wunsch verspürt zu heiraten, und die Frau wollte nichts weiter als seine Geliebte sein - noch dazu eine überhaupt nicht eifersüchtige Geliebte. Bedeutete er ihr so wenig, daß sie ihn leichten Herzens in die Arme anderer Frauen treiben wollte?
Wenn flüchtige Abenteuer für ihn immer noch von unwi-derstehlichem Reiz gewesen wären, hätte er mit Sicherheit nicht geheiratet.
Etwa eine halbe Stunde später unterbrach ein Pistolen-schuß jäh die Stille der Nacht, und die Kutsche kam mit einem Ruck zum Stehen. Roslynn fuhr aus dem Schlaf auf und hörte Anthony leise fluchen.
»Sind wir schon da?« fragte sie verwirrt, während sie blinzelnd aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus-schaute.
»Nicht ganz, meine Liebe.«
»Was ist denn los?«
»Ich glaube, ein Raubüberfall.«
Sie starrte ihn an. »Räuber? Warum sitzt du dann un-tätig hier herum? Willst du denn nichts unternehmen?«
»Mein liebes Mädchen, wir sind hier in England, und Raubüberfälle sind bei uns etwas so Alltägliches, daß wir sie sozusagen als milde Gaben an
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