Mama Mutig - Virnich, B: Mama Mutig
Sie alle klagten über dieselben Dinge: Sie zahlten horrend hohe Mieten an sogenannte Landlords, denen das Land gar nicht gehörte. Manche von ihnen waren kenianische Politiker, die mehrere Hundert oder gar Tausend Slumwohnungen besaßen, obwohl ihnen das Land nicht gehörte, denn offiziell ist Kibera »unbebautes Land«. Doch sie saßen an den Hebeln der Macht und würden alles dafür tun, um den Status quo zu erhalten. Konnte ein Mieter seine Miete nicht mehr zahlen, schickten sie ihm ihre Thugs – ihre »Gangster-Handlanger« – mit verspiegelten Sonnenbrillen vorbei, um das Geld mit Gewalt einzutreiben. Hier oben im Flugzeug über den Dingen schwebend, wurde mir klar, dass ich so schnell wie möglich nach Umoja zurückkehren musste, denn ich wollte meine Stimme erheben. Ich wollte in den nächsten Regionalwahlen antreten. Doch nun war ich erst einmal gespannt, was mich in Italien erwartete. Schon das Gefühl, das erste Mal in einem Flugzeug zu sitzen, war überwältigend. Und Italien, Europa, klang in meiner Vorstellung verheißungsvoll. Ein Land der Freiheit, des Reichtums, der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, eine Art heile Welt … so dachte ich.
Von meinem kleinen Balkon über den Dächern von Neapel schaute ich den Nachbarn auf die Wäsche. Dabei stiegen
mir herrliche Küchengerüche in die Nase. Zweieinhalbtausend Jahre europäische Geschichte lagen mir zu Füßen. Ich konnte es kaum fassen, all die herrlichen antiken Kirchen und Paläste, mit denen die Italiener in die Kulturgeschichte eingegangen sind, waren zum Greifen nah. Menschenmengen schoben sich unter mir durch ein dichtes Labyrinth aus engen Gassen an bröckelnden Fassaden vorbei, während drinnen in der geschmackvoll eingerichteten Wohnung unserer Gastgeberin, einer reichen Neapolitanerin, Menschenrechtsaktivisten aus aller Welt heftig debattierten.
Ich musste Luft schnappen, denn die Geschichte einer achtzigjährigen Argentinierin, die in den Siebzigerjahren ihre beiden Kinder verloren hatte, war mir sehr zu Herzen gegangen. Vermutlich waren sie von der Militärjunta umgebracht worden oder aber sie wuchsen in einer anderen Familie auf. Die grau melierte alte Dame hat mich zutiefst beeindruckt. Wo nimmt sie nur die Kraft her?, fragte ich mich. Voller Ehrfurcht hörte ich zu, wie die gepflegte Frau vom Leid der vielen Großmütter, Mütter und Kinder in Argentinien erzählte, die bis heute nicht wissen, was aus ihren Verwandten geworden ist, die vom damaligen Militärregime aus dem Weg geräumt worden waren. Kinder wurden ihren Eltern entrissen und in regimetreue Familien gegeben, in denen sie dann aufgewachsen waren. Bis heute fordern die Frauen auf dem Plazo de Mayo die Aufklärung dieser Gräueltaten.
Als ich sah, wie resolut die alte Dame vor dem Kamin, umgeben von feinsten Gemälden, über ihr Schicksal sprach, beschämte mich das. Ich hatte nicht annähernd so viel Leid erlebt und verzagte doch manchmal. Sie setzte sich auch im hohen Alter über ihren Schmerz hinweg und verfolgte ein klares politisches Ziel. Sie kämpfte für die Wahrheit und schöpfte daraus Kraft, um weiterzumachen. Ich war dankbar, sie kennengelernt zu haben. Wenn sie sich nicht unterkriegen ließ, dann durfte auch ich mich nicht aus der Bahn werfen lassen. Ich musste
weiterkämpfen. Sie schenkte mir einen Anhänger und ich ihr ein Perlenarmband aus Umoja. Ein Zeichen unserer Verbundenheit und unseres gemeinsamen Ziels.
Am nächsten Morgen erblickte ich am Horizont das Mittelmeer, doch viel Zeit zum Erforschen der Stadt hatte ich nicht, denn ich war zum alljährlichen Menschenrechtsfestival eingeladen, um in einer italienischen Schule über das Leben in Umoja zu referieren. Beim Frühstück beschrieb der irische Aktivist Paul O’Connor, Mitglied einer Menschenrechtsgruppe in Nordirland, seine Erfahrungen mit dem britischen Militär, bevor er zu seinem Vortrag über die Menschenrechte in Nordirland nach dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs losstürmte. Paul hatte wie ich in dieser noblen Wohnung übernachtet. Völlig erkältet trank er einen heißen italienischen Milchkaffee, um seine Stimme zu ölen. Er wollte erklären, warum er für eine Wahrheitskommission kämpfe, die den jahrzehntelangen Konflikt in Nordirland aufarbeiten sollte.
Paul hat mir ein paar konkrete Ratschläge im Umgang mit der britischen Militärpolizei mit auf den Weg gegeben. Bis heute sind die Samburu-Frauen, die von britischen Soldaten vergewaltigt wurden, nicht entschädigt
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