Mama Mutig - Virnich, B: Mama Mutig
sollte ihnen erklären, wie wir es geschafft hatten, uns in einer traditionellen Männergesellschaft wirtschaftlich und mental unabhängig zu machen. Wie bei uns hatten hier in Scampia die Männer das Sagen. »Woher hattet ihr den Mut, ein Frauendorf zu gründen?«, wollten die
schüchternen jungen Italienerinnen wissen. »Wir hatten keine andere Wahl. Für einige von uns ging es um Leben und Tod«, erklärte ich ihnen. »Wenn wir es schaffen, auf eigenen Füßen zu stehen, dann schafft ihr Europäerinnen es auch.«
Wenn da nicht die unterschiedlichsten Drogen wären. Kokain aus Südamerika und Spanien. Heroin aus Albanien und Afghanistan. In den zugigen Fluren der Betonburgen waren sie billiger als überall sonst in Europa, erklärte mir Pater Fabrizio, der örtliche Priester, schnörkellos. Wenn der Jesuitenpater, der neben mir auf dem Rednerpodium saß, am Sonntag in der Kirche Santa Maria della Speranza seine Messe hielt, versuchten auch da die Carabinieri die Dealer zu verscheuchen, die auf Kundschaft warteten.
»Die Mädchen hier werden viel zu schnell erwachsen«, erzählte mir Pater Fabrizio. »Entweder werden sie Hausmädchen oder Mütter, ohne Hoffnung auf ein besseres Leben.« Wir sollten aufhören, über die Versäumnisse der anderen zu lamentieren, und uns nun um diese heranwachsende Generation kümmern, ermutigte er die Vertreterinnen der Frauenverbände und die Schüler und zeigte auf mich. »Schaut, was diese Frauen auf die Beine gestellt haben.« Applaus. Die Leute verbeugten sich vor mir. Wenn Nagusi das sehen könnte. Ich wünschte, sie wäre hier ...
Von Patrizias Apartment mitten in Scampia schaute man direkt auf die berüchtigte Hochhaussiedlung Le Vele. In ihrer vollgestopften Siebzig-Quadratmeter-Wohnung hatte die Sozialarbeiterin ihre vierköpfige Familie durch alle Höhen und Tiefen des sozialen Brennpunkts gebracht. Ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn Marcello studierte Architektur und wollte die Betonwüste von Scampia, die Sünden von Stararchitekten, die nie hier gelebt hatten, am liebsten niederwalzen. Der Traum vom sozialen Wohnungsbau, das italienische Vorzeige-Experiment der Siebzigerjahre, an das seine Eltern als Sozialisten geglaubt hatten, war gescheitert. Drei der sieben pyramidenartigen
Hochhäuser waren bereits abgerissen worden. Anfangs wollte Patrizia in eine Gegend ziehen, die abends beleuchtet ist und in der man auch mal ins Kino gehen kann. Doch was wäre dann aus den Mädchen und jungen Frauen in dieser gesichtslosen Vorstadt geworden? So versuchte sie ihnen in ihrer Werkstatt eine gute Ausbildung zu geben, damit sie hier ihr Leben meistern oder sogar Aussicht auf eine Stelle hätten, obwohl ihre Adresse »Scampia« lautete.
Als wir abends wieder in die Innenstadt fuhren, drohte mein Weltbild aus den Fugen zu geraten. Verkehrte Welt. Plötzlich erschien mir diese moderne Gesellschaft viel ärmer als unsere. Diese Erkenntnis schockierte mich. Hier mitten in Europa gab es nicht nur Mädchen, die als Kinder Mütter wurden, sondern auch Menschen, die so arm waren, dass sie inmitten des Mülls, der sich auf den Straßen stapelte, schlafen mussten. Doch das schien keinen zu stören. Es war Samstagabend und ganz Neapel schien auf den Beinen zu sein. Vor der kleinen Pizzeria direkt neben meiner Pension stand eine riesige Menschentraube und wartete auf Pizza aus dem Steinofen.
Ansonsten beeindruckte es mich, wie sehr sich die jungen Helfer vom Festivalkomitee für andere einsetzten. Sie arbeiteten alle in unterschiedlichen Menschenrechtsvereinen. Einige von ihnen engagierten sich für junge Mädchen aus Afghanistan, andere für Sinti und Roma. Auf dem Weg zum Flughafen grüßten sie kleine Roma-Jungen, die an der Piazza del Gesù Gemüse verkauften.
Die Unterschiede zwischen Europa und Afrika erwiesen sich als viel kleiner, als ich gedacht hatte. Ich verstand die soziale Kälte und die Gegensätze, da ich das alles auch in Nairobi kennengelernt habe. Doch konnte ich die Situation in Neapel nicht näher kennenlernen, da mein Aufenthalt in dieser Stadt begrenzt war.
Kaum angekommen, saß ich also schon wieder im Flugzeug auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, genauer nach Santa
Fe und Washington. Die amerikanische Hilfsorganisation Vital Voices hatte mich eingeladen, um mich für meinen außergewöhnlichen Führungsstil auszuzeichnen. Doch zunächst fuhr ich auf eine Messe für Kunsthandwerk aus aller Welt nach Santa Fe. Voller Vorfreude bekam ich keinen Bissen herunter. Und
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