Mama Mutig - Virnich, B: Mama Mutig
worden. Paul hatte jahrelang dafür gekämpft, dass Schusswechsel zwischen britischen Soldaten und nordirischen Zivilisten nicht nur von der Militärpolizei untersucht wurden. »Ihr müsst dafür sorgen, dass sich auch die kenianische Polizei oder unabhängige Organisationen um diese Fälle kümmern, sonst kommt nichts dabei herum«, meinte Paul.
Mir wurde klar, dass es richtig gewesen war, dass ich 2003 darauf bestanden hatte, bei den Befragungen der vergewaltigten Samburu-Frauen in meinem Bezirk dabei zu sein und die Verhöre mit einem Übersetzer stattfinden zu lassen. Die älteren Männer von Archer’s Post hatten das für übertrieben gehalten. Sie meinten damals, ich wolle die Dinge unnötig kompliziert machen, auch wenn sie grundsätzlich von meiner
Courage beeindruckt waren. Doch wenn ich diesen irischen Menschenrechtsaktivisten jetzt reden hörte, fühlte ich mich bestätigt. Ich hatte immer gespürt, dass es den Soldaten nicht darum ging, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen.
Kurze Zeit später holte mich Patrizia, eine resolute Italienerin, die eine Schneiderlehrwerkstatt für junge Italienerinnen leitet, die auf die schiefe Bahn geraten sind, zu meiner Veranstaltung ab. Gut gelaunt schob ich mich mit vollem Samburu-Schmuck in einem roten Kleid vorbei an alten Damen in knielangen Röcken und schwarzen Strickjacken durch die Gassen von Neapel. Sie musterten mich prüfend und nickten mir dann wohlwollend zu. Ganz Neapel schien auf den Beinen zu sein. Die Menschen starrten neugierig auf meine bunten Ketten und meinen Kopfschmuck und lächelten mich an. In der Spaccanapoli, einer Gasse, die quer durch Neapel läuft und die Stadt teilt, türmten sich die Müllberge und verbreiteten einen Geruch, den ich eigentlich nur aus Kibera kannte. Ich war erstaunt, dass es das auch in einem europäischen Land gab.
Unweit von hier reihte sich in der Via San Gregorio Armeno so kurz vor Weihnachten ein Stand an den anderen. Händler aus Westafrika boten grinsend tanzende Weihnachtsmänner an, während neben ihnen alte italienische Schnitzer ihre filigranen Holzkrippen, Glitzersterne und Rauschgoldengel mit Schildern wie »No China« an den Mann brachten. Wie um den Müllgestank zu übertünchen, verbrannten sie Myrrhe und Weihrauch und der herrliche Duft hatte sich über die alten Kuppeln gelegt. Sie waren stolz auf ihr Kunsthandwerk und wollten sich vom grellen Ramsch aus Fernost absetzen. Einige der Senegalesen verneigten ehrfurchtsvoll den Kopf vor mir. »Mama Afrika, Mama Mutig«, riefen sie mir strahlend zu.
»Wieso lasst ihr den Putz und die herrliche rote Farbe von den Fassaden bröckeln?«, wollte ich wissen. »Weil die Stadt kein Geld hat, um sie zu restaurieren«, erklärte mir Patrizia. »Hier herrscht Anarchie. Hier zahlt kaum einer Steuern, hier
zahlt man Schutzgelder an die Camorra.« Das organisierte Verbrechen stelle eine andere Form von Staat dar, fügte sie hinzu. Doch die Camorra kümmere sich nur um ihre eigenen Leute. Deshalb nahm Patrizia in ihrer Werkstatt junge Mädchen an die Hand, die drohten, auf der Straße zu landen. Bei ihr können sie eine Ausbildung machen, um sich ein eigenes, unabhängiges Leben aufzubauen. Patrizia und ich sind aus demselben Holz geschnitzt.
Das Festival war außergewöhnlich, da es nicht nur Filme zum Thema Menschenrechte zeigte, sondern auch Diskussionen innerhalb der Bevölkerung anstoßen wollte. Die ganze Stadt stand im Zeichen der Menschenrechte. Während wir in einer Schule mitten in Scampia, einem berüchtigten Vorort von Neapel, Filmausschnitte über unser Frauendorf sahen, standen draußen vor der Tür Carabinieri Wache, denn auch hier regierte die Camorra, die organisierte Kriminalität. Zwischen den Betonsilos verkauften Minderjährige Kokain, Heroin und alle erdenklichen Designerdrogen.
Vor mir saßen Frauen aus Frauenhäusern, die von ihren Männern geschlagen wurden, und Mädchen, die mit zwölf oder dreizehn Jahren Babys zur Welt brachten, obwohl sie selbst noch halbe Kinder waren. Sie wuchsen mit dem einen Ziel auf, Kinder zu bekommen. Ihre Väter saßen im Knast und ihre Brüder ebenso – zumindest mit einem Bein. Täglich erschütterten mehrere Morde die Stadt am Vesuv. Ordentliche Arbeit hatte hier kaum jemand. Ihre Schilderungen schockierten mich. Abgründe taten sich auf. Ich war sprachlos.
Die Organisatoren des Festivals hatten mich eingeladen, damit ich den Mädchen und Vertreterinnen von Frauenhäusern und Initiativen Mut mache. Ich
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