Mama Mutig - Virnich, B: Mama Mutig
eilig in ein großes Backsteingebäude. Ich will alles dafür tun, dass es in Archer’s Post auch eines Tages eine richtige öffentliche Schule gibt, dachte ich. Im Augenblick gingen die Kinder aus dem gesamten Umkreis in die Vorschule von Umoja. Eine Schule für Archer’s Post war längst überfällig und wäre der wichtigste Baustein für die Entwicklung unserer Gegend. Ich würde all meine Erfahrungen einbringen, um dieses Ziel in den nächsten Jahren zu erreichen, und mich dafür einsetzen, dass auch Mädchen schulisch gefördert werden. Allein schon deswegen wollte ich mich bei den Gemeinderatswahlen als Kandidatin aufstellen lassen. So wahr mir Gott helfe, schwor ich mir.
Ich fühlte mich hin und her gerissen zwischen Lampenfieber und Vorfreude, als wir vor dem flachen Steingebäude standen, vor dem einige Moslems aufgeregt auf und ab liefen. Mein Mann hatte sich in einem hellen Anzug hinter einer Zeitung verschanzt. Ihm war das Ganze offensichtlich sehr peinlich. Er würdigte mich keines Blickes. Es herrschte Eiseskälte zwischen uns, obwohl es an dem Tag brütend heiß war. Vor uns prangte das kenianische Wappen mit den gekreuzten Speeren und ich gab mir einen Ruck. »Lasst uns reingehen.« Ohne zu zögern ging ich mit Lucy und Nanyimoi an ihm vorbei in den Gerichtssaal, der mit Somalis und Boranas in ihren langen Gewändern überquoll. »Du wirst es schaffen«, flüsterte mir Lucy zu, als wir zwischen verschleierten Frauen und Männern in langen Anzügen Platz nahmen.
Plötzlich sprangen alle auf – der junge Richter hatte die Tür aufgerissen und betrat den Gerichtssaal. Nach einer zackigen Begrüßung nahmen seine Schriftführer, die Justizgehilfen, der Staatsanwalt und die Anwälte vor ihm auf den Steinbänken Platz. Es folgte eine stundenlange Litanei im juristischen Jargon. Ein Fall nach dem anderen wurde aufgerufen: Betrugsdelikte, Schuldenfälle oder Rinderdiebstähle. Es ging um Summen
zwischen umgerechnet zwanzig und zehntausend Euro. Die monotonen Stimmen, mit denen die Anwälte ihre Plädoyers hielten, wirkten nach einer Weile fast einschläfernd auf mich. Geduldig brachte der Richter den endlosen Wortschwall zu Papier, während draußen im Innenhof weiße Reiher und Marabus laut zeternd ihre Nester in den mächtigen Feigenbäumen bauten.
In Gedanken war ich weit weg, als ich plötzlich unsere Namen hörte. »Lolosoli gegen Lolosoli.« Die Stimme des Richters ging mir durch Mark und Bein. Mein Herz stockte. Monatelang hatte ich auf diesen Moment gewartet. Die Welt schien stehen zu bleiben. Meine Beine fühlten sich plötzlich bleiern an. Wie in Zeitlupe setzte ich eines vor das andere und schritt zum Zeugenstand. Als ich dort oben angekommen war, verschwammen die Menschen im Saal zu einem großen Farbfleck. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und holte tief Luft. Ich spürte, wie sich die Blicke meines Mannes in meinen Rücken bohrten, und fühlte Genugtuung bei dem Gedanken, dass er mir hier oben nichts anhaben konnte. Ich wusste, dass er mich in diesem Moment am liebsten niedergebrüllt und mir verboten hätte, mich so aufzuführen. Doch er konnte daran nichts ändern, würde stillhalten und zuhören müssen. Das musste eine Höllenqual für ihn sein.
Mein Leben und die ewigen Streitereien rauschten noch einmal an mir vorbei. Ich wusste, dass es jetzt darauf ankam: Ich musste mein Bestes geben. Möge der heilige Ngai mir beistehen und mir die Kraft geben, den Richter zu überzeugen. Als ich die Augen wieder öffnete, schwebte ein kleiner afrikanischer Spatz, der sich in den Gerichtssaal verirrt hatte, um meinen Kopf herum. Der zierliche kleine Vogel zog elegant und voller Energie wie ein Bote aus einer anderen Welt über den Köpfen der Anwesenden seine Kreise.
Warum ich nicht mehr im Hause meiner Familie lebe, wollte der Rechtsanwalt meines Mannes wissen. Das möge ich doch
bitte einmal dem Gericht erklären, forderte er mich auf. Es klang wie ein Vorwurf. Er unterstellte mir, ich hätte nicht genug für meine Ehe gekämpft. Eine gute Mutter müsse alles für ihre Familie tun, sagte er und legte eine gewichtige Pause ein, um sich die Zustimmung des Publikums zu holen.
»Welches Ziel verfolgt eine Organisation wie Urgent Action Fund?«, wollte der Anwalt wissen. »In meinem speziellen Fall oder generell?«, fragte ich zurück. Doch er wartete meine Antwort gar nicht ab. »Ich glaube, ich kann Ihren Fragen nicht folgen«, erklärte ich. Ohne darauf einzugehen, führte er das
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