Man Down
auf dich.
Shane sah mich mit großen Augen an, spuckte seinen Kaugummi aus, verfehlte aber den Aschenbecher. Der Kaugummi landete auf einem Berg Schmutzwäsche. Shane machte sich nicht die Mühe, ihn aufzuheben, er steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. Ich sprang auf und wollte ihn zu Boden reißen, aber ich schaffte es nicht, ich schlug zu, links-rechts-links, die Fäuste prasselten auf ihn ein, aber er wehrte sie ab, duckte sich weg, schubste mich zurück, schlug mit seiner Linken zu und hielt in seiner Rechten die verdammte Zigarette in die Höhe. „Kämpf, Babyface! Kämpf! Lass dich nicht unterkriegen!“
Wir prügelten uns oft, Shane und ich, einfach so, aus Spaß, wenn wir zu viel getrunken hatten oder übermütig waren. Wir boxten, wir boxten uns gut. Ich hörte meinen Kiefer knacksen, ich spürte, wie meine rechte Faust explodierte, als sie auf Shanes Killerfaust traf. Ich roch seinen Schweiß, roch Zwiebel und Döner und Red Bull und Haarshampoo. Ich schmeckte Blut in meinem Mund. Der Schweinehund machte mich alle. Wie jedes Mal machte er mich alle.
„Was ist los, Babyface? Beiß, schlag, kratz! Wehr dich!“
Ich schlug, so fest und schnell ich konnte, die Schläge gingen nur ins Leere oder wurden pariert.
„EINMAL IN DEINEM GOTTVERDAMMTEN LEBEN SOLLST DU DICH WEHREN! STEH EINMAL DEINEN MANN! EINMAL! NUR EINMAL!“
Shane war ein verdammt guter Boxer. Weil er Schultern und Muskeln hatte für zwei und weil er einstecken konnte. Shane hatte keine Angst vor Schmerzen, keine Angst vor einer platten Nase oder einer Zahnlücke. Shane hatte nur Angst zu verlieren.
„Meine Brüder wollen ihr Geld“, sagte er, nahm meinen Kopf in den Schwitzkasten und hob mit der Linken die Zigarette auf, die auf den Boden gefallen war. „Ihr Geld oder deinen Arsch.“
„Ich krieg das Geld nicht zusammen“, keuchte ich und trat ihm auf den rechten Fuß. „Wie denn?!“
Shane knallte mich auf den Boden.
„Ich kann Öcal anrufen. Ich kann ihm sagen, du fährst die nächsten Monate in die Schweiz und holst das Gras von den Marokkanern. Dann ist das gebongt, verstehst du? Die brauchen nen Kurier, du willst die Schulden loswerden. Der Deal ist fair.“ Shane zog an seiner Zigarette und stand auf. „Und du wärst der perfekte Mann dafür.“
„Quatsch“, stöhnte ich. „Ich würd mir in die Hose scheißen.“
Shane half mir auf die Beine, ich stand da, krümmte mich vor Schmerzen, schaffte es nicht, meinen Oberkörper aufzurichten. Er legte seine Hand auf meinen Rücken.
„Keiner kontrolliert mein Babyface. Die Kanaken, die als Kuriere arbeiten, die fliegen alle früher oder später auf. Und wenn alle Stricke reißen – du bist nicht vorbestraft, du kriegst Bewährung, du kriegst bestimmt Bewährung. Sag mir, dass du es machst, und ich ruf meine Brüder an.“
Ich wusste nicht mehr, was ich sagen, denken, tun sollte.
Es gibt einen Song von einem Rapper, in dem es heißt, es ist egal, ob man leidet oder glücklich ist, es ist sowieso nichts für immer. Weder das Glück noch das Leid. Wer heute lacht, weint morgen, wer heute in der Hölle ist, der kommt bald schon in den Himmel. Warum also sich dagegen stemmen? Was zählt ist, dass man lebt. Dass man was fühlt. Schmerz, Glück, scheißegal. Man muss nur fühlen.
Ich habe dem Rapper geschrieben, er soll sich die Beine amputieren lassen und sich für den Rest seines Lebens in einen Rollstuhl setzen, er soll sich in Guantanamo einsperren lassen, er soll eine Frau sein und sich von dreißig Kerlen in Darfour vergewaltigen und verstümmeln lassen. Dann soll er mir seinen Song nochmals vorsingen.
Weißt Du, was der Typ mir zurückgeschrieben hat? Er hat mich gefragt, wie ich es wagen könnte, für einen Krüppel, für einen Gefangenen, für eine Vergewaltigte zu sprechen, das müssten die schon selber tun. Ich sei doch bestimmt ein spießiges Sackgesicht, das noch gar nichts gefühlt habe in seinem Leben. Weder Freude noch Schmerz.
Und dann habe ich mich gefragt, wann ich das letzte Mal richtig glücklich war. Es ist so verdammt lange her. Aber ich bin auch nicht unglücklich. Das ist keine Zeit, sich unglücklich zu fühlen. Das ist keine Zeit, überhaupt etwas zu fühlen. Man will nur überleben. Man will nur nicht untergehen.
***
Heute ist es ein Jahr her. Vor einem Jahr bin ich von dem verdammten Schlossdach gefallen. Sechsmeterzwanzig, stand im Protokoll der Polizei. Mindestens acht Meter, meinten meine Kumpels. Ich brach mir das
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