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Man Down

Man Down

Titel: Man Down Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Pilz
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sie, „und wollte dich davor unbedingt noch einmal sehen.“
    „Du gehst zurück?“
    Sie nickte. „Im Sommer.“
    „Du kommst nicht wieder?“
    „Ich glaube nicht.“
    Wie von Geisterhand legten sich in wenigen Minuten dunkle Wolken auf die Berge. Ich liebte die Vorstellung, in den Wolken da oben verloren zu gehen. Im Nichts zu verschwinden. Nie existiert zu haben.
    Frei zu sein.
    Von allem.
    Nicht zu sein.
    Mein Leben war ja doch nur eine Geschichte voller Lärm und Wut. Alles war scheißegal. Verletzen, leiden, verbrennen, weinen, lachen, tanzen. Alles war so sinnlos.
    Die beiden lachten und tranken und flirteten, mir war das alles zu viel, das Lachen zu laut. Angela gab mir eine verstaubte Luftmatratze, die ich mit einem feuchten Lappen putzte und mit einem Blasebalg aufpumpte, und ich legte mich in eine kleine Abstellkammer. Mirra, die Katze, legte sich zu mir. Ich war müde, beschwipst, aber ich konnte nicht einschlafen. Mirra fand keine Ruhe, leckte ihre Pfoten und schnurrte, ich vermisste Marion. Die alte Marion. Die Marion, ehe ich rausfand, dass sie eine Nutte war.
    Shane glaubte mich zu wecken, dabei hatte ich noch gar nicht geschlafen. Er kniete sich neben mich. „Hey! Hey, Kai! Hey!“
    „ …“
    „Darf ich sie ficken?“
    „ …“
    „Ich hatte noch nie ne Negerin! Noch nie. Sag, dass ich sie ficken darf!“
    Er war besoffen, er kicherte, ich presste meine Augen zu, als würde ich schlafen, als könnte ich ihn gar nicht hören, aber er öffnete mein linkes Auge mit dem Daumen.
    „Du hast mich auch nicht gefragt, als du Marion gefickt hast“, sagte ich.
    Er schloss mein Auge wieder. „Ehrenwort, ich hab die nicht angerührt.“
    „Du lügst.“
    „Ich schwör bei Allah!“
    „Du glaubst gar nicht an Allah.“
    „Dann sag deinem Gott, er soll mich töten, wenn ich lüge.“
    „Mein Gott tötet nicht.“
    „Er tötet alle. Früher oder später. Keiner überlebt.“
    „Feiern alle Wiederauferstehung.“
    „Was ist jetzt? Gibst du mir deinen Segen?“
    „Oh Mann, Shane …“
    „Darf ich oder darf ich nicht?“
    „Fick dich, Shane“, sagte ich leise. „Lass mich schlafen.“
    „Nur wenn du nichts dagegen hast! Sonst tu ich’s nicht, verstehst du? Ey, ich tu’s nicht, wenn du was dagegen hast. Ist ja deine Mutter.“ Shane flüsterte in mein rechtes Ohr: „Sie hätte seit fünf Jahren nicht mehr, hat sie gesagt, kannst du das glauben? Fünf Jahre, verdammt! Ich mache sie glücklich, ich verspreche es dir. Ich mach deine Mutter zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich.“
    Ich drehte mich zur Seite. Ich fror. Ich fror die ganze Nacht.
    Ich habe das Gefühl, ganz nah bei Dir zu sein. Ich spüre Deinen Atem in meinem Nacken, ich spüre Deine Blicke auf mir. Ich höre Deine Schritte. Du folgst mir. Du bist hier. Hier in dieser Stadt. Du bist niemals von hier weg. Deine Leiche mag irgendwo im Allgäu auf einem Friedhof unter der Erde liegen, aber Du, Du bist immer noch hier. Hier, hier, hier. Du kannst mich fressen, friss mich, bitte friss mich. Ich wehre mich nicht. Es wäre mir sogar Recht. Es wäre mein größter Wunsch. Du bist hier. Du bist ganz nah. Ich spüre es. Stürz Dich auf mich. Zerreiß mich, sei gnadenlos. Sei das wilde Tier, das Du niemals warst.
    ***
    Als ich aufwachte, war Angela weg und Shane schnarchte bäuchlings splitternackt in ihrem Schlafzimmer. Ich glotzte durch den Türspalt und fand Bestätigung für etwas, das ich längst vermutet hatte – Shane hatte ne Menge Haare auf’m Arsch. Ich lachte vor mich hin, überlegte, ob ich einen Ladyshave suchen sollte, ließ es dann aber bleiben, weil das Gerät danach zum Fortschmeißen gewesen wäre. Ich beobachtete lieber die Katze beim Fressen und Putzen und sah mich dann in der Wohnung um. An den Wänden hingen Aquarelle, düster und verschwommen, ich war überzeugt davon, dass sie von Angela stammten.
    In einer Vitrine fand ich drei Fotos. Zwei von Florian, und eins, auf dem wir alle drauf waren. Florian, ich, mein Vater und Angela.
    Wäre Florian leibhaftig vor mir aufgetaucht, hätte mein Herz nicht weniger gehämmert. Ich stand da und starrte auf die Fotos. Minutenlang. Ich hatte meinen Bruder so lange nicht mehr gesehen. Als ich nach München gezogen war, hatte ich kein einziges Foto von zuhause mitgenommen.
    Kein Tag. Kein einziger Tag seit zehn Jahren, an dem ich nicht daran gedacht hätte. Der Augenblick, als Florian ins Wasser stürzte, gehörte zu mir wie meine Hände, meine Arme, meine Beine – er war

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