Man Down
Vergleich zu dem reißenden Monster von damals, das meinen Bruder verschlungen hatte.
Vieles hatte sich hier verändert. Das Ufer war verbaut worden, wahrscheinlich um die angrenzenden Häuser vor Überschwemmungen zu schützen. Die Büsche und Sträucher waren auf dem diesseitigen Ufer verschwunden und einer hohen Steinmauer gewichen. Auf der anderen Seite befand sich nun eine Art Treppe mit hohen, steilen Stufen, deren Beton nur hie und da von ein paar frisch gepflanzten Bäumen durchbrochen wurde.
Ich hatte das Gefühl, die ganze Welt würde mich anstarren. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Das ganze Universum verfolgte, was ich jetzt tun oder sagen würde.
Ich stand vor Gericht.
Aber ich hatte keine Worte. Worte sind Dreck. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Auf keinen Fall wollte ich auf die Knie fallen und heulen, aber da war auch schon Wasser in meinen Augen. Der Föhn wütete und raubte mir mit jedem heftigen Windstoß den Atem. Blies die Tränen aus meinem Gesicht und verursachte neue. Die Bäume verneigten sich, Zweige knisterten und brachen, ich sah, wie die Wolken über die Berge fegten.
All die Jahre hatte ich mir vorgestellt, wie es sein würde, wieder hierherzukommen. Hatte gedacht, dass ich Halluzinationen erleben würde. Ja, ich war mir sicher gewesen, Florian würde aus dem Wasser auftauchen und mich mit hinunterziehen oder wie Jesus übers Wasser wandeln und mit dem Finger auf mich zeigen. Aber nichts dergleichen geschah. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich die richtige Stelle gefunden hatte.
Florian hatte aus seinem Leben und Leiden nicht ausbrechen können. Er hatte sich gefügt. Vielleicht war er einfach auch zu jung gewesen. Und ich hatte nicht die Eier gehabt, den Kampf an seiner Stelle zu führen. Ich hatte genauso wenig aus meiner Rolle ausbrechen können. Wir waren Schauspieler, die genau das sagten, was im Skript stand. Die taten, was sie tun mussten. Menschen in Ketten, das waren wir.
Ich nahm den Brief, den ich bereits in München geschrieben hatte, aus dem Kuvert und las ihn laut: „Ich weiß nicht, warum ich bin, wie ich bin. Ich weiß nicht, warum ich ich bin. Aber ich weiß, dass ich Dich geliebt habe, Florian. Es klingt verrückt und bescheuert, aber ich habe Dich geschubst, weil ich Dich geliebt habe. Ich habe Dich geliebt wie einen Bruder, und ich habe Dich gehasst wie meinen größten Feind, weil Du Dich nie gewehrt hast. Weil Du all das ertragen hast. Ich wollte, dass das ein Ende hat. Ich konnte nicht länger mitansehen, wie sie den Bimbo herumschubsten. Ich hab das nicht mehr ausgehalten. Und so habe ich den Bimbo getötet.“ Ich holte tief Luft und sprach mit lauter Stimme weiter: „Nie mehr – und das schwör ich Dir! Nie wieder. Werde ich mein Herz vergewaltigen. Hier begrabe ich mein altes Ich. Hier begrabe ich alle Fesseln und Knebel. Ich weiß, das schulde ich Dir, auch wenn es Dich nicht mehr zurückbringt. Ich werde nie wieder Angst haben. Vor niemandem. Nicht vor den Gelben, nicht vor denen, die Dich gequält haben, nicht vor Shanes Brüdern, nein, ich bin nicht länger Sklave meiner Angst.“
Zwei Radfahrer fuhren vorbei, ein älteres Pärchen, das mich misstrauisch beglotzte. Als sie von den Rädern stiegen, um sich auf eine Parkbank wenige Meter von mir entfernt zu setzen, sprang ich von der Mauer auf eine trockene Stelle am Rand des Flusses. Ich landete hart mit einem stechenden Schmerz im linken Fußballen. Ich las den Brief weiter: „Florian – ich bin kein besserer Mensch als damals. Aber ein anderer. Und das ist alles, was ich Dir zu bieten habe. Es ist mir mein Leben lang schwergefallen, meine Gefühle zu zeigen. Ich habe Dich kein einziges Mal umarmt. Kein einziges Mal gesagt, dass ich meinen kleinen Bruder liebe. Ich schwör bei Gott, ich würde mir das Herz rausreißen, wenn ich so den Beweis liefern könnte, dass ich Dich damals geliebt habe. Und immer noch liebe.“
Ich steckte das Papier wieder in das Kuvert.
„Keine Angst. Das war mein letzter Brief an dich. Jetzt hast du deine Ruhe vor mir.“
Ich warf das Papier ins Wasser und salutierte, wie Florian immer salutiert hatte, wenn er Soldat spielte. Mit Holzgewehr, Feldflasche und Fernglas. Die Finger an der Stirn weit gespreizt, was natürlich furchtbar dämlich aussah, aber es war seine Art zu salutieren, die er sich von niemandem hat ausreden lassen.
Bye, bye, kleiner Bruder.
Ich ging am Rand der Sill weiter flussabwärts und musste mehrere Meter durch nicht allzu tiefes
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