Man Down
drauf. Ich glaube, er hat sogar mit meiner Freundin geschlafen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er noch nicht mit mir geschlafen hat.“
Sie zündete sich eine Zigarette an. Ihre Hände zitterten. Sie stand auf, ging in die Wohnung und kam mit einem Schuhkarton zurück. Sie stellte ihn auf den Tisch und setzte sich wieder. Sie griff hinein, der Karton war voller Kuverts, sie warf ein paar in die Luft, sie fielen auf den Tisch, auf den Boden. „Was sollen all die Briefe?“
„Du hast sie aufgehoben?“
„Ich habe sie gelesen.“
„Dazu hattest du kein Recht.“
„Sie sind schön. Traurig und schön. Ich hätte dir längst antworten sollen. Aber ich hatte nicht die Kraft dazu.“
Sie zog an der Zigarette, als würde von jedem Zug ihr Leben abhängen. Als hinge ihre Existenz an einem seidenen Faden.
„Ich wollte das nicht“, sagte ich. „Das mit Florian.“
„Es war ein Unfall.“
„Es war kein Unfall.“
„Ich will nichts davon hören.“
„Doch, du musst.“
„Er ist ins Wasser gefallen, ich hätte euch niemals alleine an die Sill lassen dürfen.“
„Es war kein Unfall.“
„ HÖR AUF !“, schrie sie und zeigte mit ihrem Zeigefinger auf mich, als wäre er eine Waffe. „ GODDAMN !“
„Lass mich ausreden, okay?“
„NEIN! ICH WEISS, DASS DU IHN GESCHUBST HAST! ICH WEISS DAS DOCH!“
Ich schluckte. „Du weißt es?“
„Ich habe es gesehen.“
„Du hast es gesehen?“
Die Tränen schossen nur so aus ihren Augen. Ich habe noch nie einen Menschen so weinen gesehen. Ihr hysterischer Auftritt verstörte mich.
„Ich war mir nicht sicher. Ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet. Aber irgendwann war mir klar, dass du es mit Absicht getan hast.“
„Deshalb hast du meinen Vater verlassen.“
„Quatsch“, sagte sie. „Dein Vater hat mich geschlagen. Nachdem Florian tot war, wurde es immer schlimmer.“
„Du hast es gesehen und hast nie was gesagt?“
„Mein Gott! Es war ein Unfall. Eine Rangelei unter Kindern.“
„Das war keine Rangelei. Mit Florian konnte man nicht rangeln.“
„Du Wahnsinniger bist ihm ja nachgesprungen! Dass du überlebt hast, dafür kannst du Gott jeden Tag dankbar sein.“
„Weißt du, dass man sich eine Strafe herbeisehnt, wenn man was ganz Schlimmes getan hat und man ein schlechtes Gewissen hat und keiner einen bestraft?“
„Mit der Sache musst du ganz alleine klarkommen. Du bist alt genug.“
„Ich möchte aber, dass du mich anschreist, Angela. Dass du n Messer holst und mich abstichst. Ich kann so nicht leben mit der Schuld. Ich schaff das nicht mehr!“
„Bitte geh. Geh! Ich gebe euch Geld für die Jugendherberge. Ich gebe euch Geld für ein Hotel. Aber bitte verschwindet. Es war ein Fehler, dich einzuladen. Es war ein Fehler, tut mir leid. Bitte geht.“
Ich stand auf. Ich hätte sie gerne umarmt, aber sie blieb sitzen. Ich wollte ihr die Hand geben, aber sie nahm sie nicht.
Ich ging ins Haus, wollte zur Wohnungstür, da stand sie doch noch auf. Ich hatte die Klinke schon in der Hand, da sagte sie: „Du kannst Florian nicht wieder lebendig machen, Kai. Du kannst weder mich noch sonst wen um Verzeihung bitten. Aber ich frage mich, ob deine Reue aufrichtig ist. Wenn du glaubst, du hast was Böses getan, und du bereust es, dann ist diese Reue verlogen, wenn du heute genauso handelst wie damals.“
„ …?“
„Ich glaube, du hast dich überhaupt nicht geändert. Du hasst deine Freundin, weil sie sich prostituiert. Du hasst sie, weil sie schwach ist, weil sie gedemütigt wird, genau wie Florian damals. Du hasst die Schwachen, du willst alles, nur niemals zu den Schwachen gehören. Tief in dir schlägt dein Herz nur für sie. Liebst du sie. Wärst du gerne Robin Hood. Aber dir fehlt der Mut. Für sie zu kämpfen, den Mut hast du nicht! Deiner Freundin das Geld zu schenken, das bringst du übers Herz, aber zu mehr bist du nicht fähig.“
„Zu mehr? Was mehr ?“
„Nicht sie ist dreckig. Nicht sie ist zu verachten. Was sie tat, tat sie aus Liebe. Sie tat es für ihren Bruder. Was tust du für sie? Was tust du aus Liebe?“
„Ich habe der Nutte das Geld geschenkt, was soll ich denn noch tun?“
Angela zögerte für einen Augenblick, als erwartete sie, ich käme von selber drauf. Dann sagte sie: „Ihr verzeihen.“
***
Dann stand ich am Ufer der Sill und ließ mich vom fließenden Wasser hypnotisieren. Es war nicht tief, es schien fast so, als ob man den Fluss mit hohen Stiefeln durchqueren hätte können. Kein
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