Man lebt nur ewig
der Nacht verschwan- den.
»Cool«, flüsterte ich.
»Ich weiß ja nicht«, meinte Cassandra. »Mir dreht sich dabei eher der Magen um.« Sie beobachtete Bergman, der einen weiteren Kugelschreiber hervorgezogen hatte und damit die dornenbesetzte Zunge des Monsters entrollte.
»Was sagt das Enkyklios dazu?«, wollte er wissen und schaute auf das vielschichtige Gebilde aus blaugoldenen Kugeln in Cassandras Hand.
»Bisher noch nichts«, erwiderte sie abwehrend. »Aber das wird es noch. Propheneum «, sagte sie scharf. Eine einzelne Kugel rollte an die Oberfläche der Marmorflä- che. Cassandra begann den Kampf zu schildern, wie sie ihn beobachtet hatte, und fragte mich hin und wieder nach weiteren Einzelheiten. Als sie fertig war, sagte sie: » Daya ango le che le, Enkyklios accsallio terat .« Die Ku- geln bildeten ein neues Muster, berührten einander, fielen aber nie auseinander, bis eine neue Kugel an der Oberflä- che erschien und neben der, die gerade meine Geschichte aufgenommen hatte, liegen blieb.
»Was hast du da gerade gemacht?«, wollte Bergman wissen, und sein Blick huschte zwischen dem Enkyklios und Cassandra hin und her, als könnten einer oder beide plötzlich explodieren.
»Querverweise«, sagte sie knapp. »Jetzt werden wir se- hen, welche Aufzeichnungen es bereits gibt.« Sie berührte die neue Kugel hart genug, um sie kurz zu verformen, und sagte: » Dayavatem .« Dann streckte sie die Hand, in der
sie die magische Bibliothek hielt, aus, und das Heimkino begann.
Zunächst konnte man nur ein blinkendes Licht erken- nen, als würden die Lider der Kugel sich flatternd öffnen. Dann, voilà, sprangen Farbe und Ton an, und verblüffend detaillierte Bilder erschienen.
Dunkle Wolken zogen über den Himmel. Ein heftiger Wind fegte durch die grün belaubten Bäume und ließ sie so düster erscheinen wie das ältere Paar, das in seiner schi cken Kutsche die holprige Straße entlangrumpelte. Ka men sie gerade von einer Beerdigung? Ihre schwarze Klei dung brachte mich auf den Gedanken, doch sie konnten genauso gut auf dem Weg in die Oper sein. Der Mann zügelte plötzlich die Pferde und sowohl er als auch seine Frau blickten nach links. Langsam breitete sich Furcht auf ihren Zügen aus.
Als hätte er meine Frustration gespürt, erschien der Grund für ihre Betroffenheit im Bild. Ein Bandit zu Pferd, der einen schwarzen Dreispitz trug. Die braune Jacke über seinem fleckigen Hemd war schmutzig, und seine braunen Hosen sahen sogar noch mitgenommener aus. An den abgewetzten Reitstiefeln schienen sich lang- sam die Nähte aufzulösen. Er zog eine verrostete Pistole, bei der es wahrscheinlicher schien, dass sie ihm die Hand abriss, als dass sie die Person verletzte, auf die sie gerich- tet war. Ein dreckiges rotes Taschentuch verdeckte das untere Drittel seines Gesichts.
»Her mit den Wertsachen!«, fauchte er. Das Paar zuckte zusammen und legte dann einiges an Schmuck und Bar- geld in den Hut, den er ihnen hinstreckte. Um seine Beu- te einzusammeln, musste er sich vorbeugen, und als er sich wieder im Sattel aufrichtete, rutschte das Taschen- tuch von seinem Gesicht.
»Randy«, keuchte die Frau. »Wie können Sie nur?«
»Verdammt!«, fluchte der Bandit. »Jetzt muss ich Sie töten!«
Der alte Mann stand auf. »Nein, warten Sie!«
Randy legte an, doch bevor er abdrücken konnte, er- schien ein weiterer Reiter, der sein Pferd so abrupt zum Stehen brachte, dass seine Ankunft von herumfliegenden Lehmbrocken und einer Staubwolke begleitet wurde. Er hatte sein Tier so hart angetrieben, dass dessen Flanken schweißgetränkt waren und es keuchend um Luft rang.
Der Mann selbst wirkte ziemlich harmlos. Hätte man ihn in einer Gegenüberstellung zu Gesicht bekommen, hätte man gesagt: »Nein, er kann unmöglich diese arme Frau mit dem Montiereisen erschlagen haben.« Er hatte einfach diese breitschultrige, offene, vertrauenswürdige Ausstrahlung eines zuverlässigen Polizisten. Doch als er den alten Herrschaften zublinzelte, verschwamm sein Kopf kurz, als wäre hinter dem Gesicht, das er der Welt präsentierte, noch ein zweites versteckt.
»Wer sind Sie denn?«, fragte Randy.
Der Mann grinste und entblößte dabei schiefe gelbe Zäh- ne und eine kurze Ahnung davon, dass sich hinter ihnen etwas Grauenhaftes verbarg. »Mein Name ist Frederick Wyatt, und ich bin ein großer Bewunderer von dir. Ah, Randy« - er ließ sich das R auf der Zunge zergehen, als sei es aus Schokolade -, »irgendwann wirst du mir wahres
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