Man lebt nur ewig
schoss ein dicker, sehniger roter Tentakel, der mit kleinen Saugnäpfen besetzt war. Er senkte sich auf das dritte Auge des Schröpfers und zog, woraufhin der Schröpfer schrie und mit seinen Fäusten gegen das große Tor schlug.
Schließlich gab das Auge nach, und der Tentakel zog sich mit seiner Beute zurück. Die kleine Tür schlug hinter ihm zu. Wyatt lehnte seine blutende Stirn einige Minuten lang gegen das Tor, beobachtet von der regungslosen alten Frau. Dann drehte er sich zu ihr um. »Ich kann dich nicht töten«, stellte er mit erschreckend fröhlicher Stimme fest. »Aber wie sich zeigt, kann ich dein Auge gebrauchen.«
Das Bild verblasste, als er mit einem bösartigen Grinsen auf sie zuging.
Doch es war noch nicht vorbei. Es folgte ein Diavor- trag, gehalten von einer Frau, deren Vorlesung mich an den Biologieunterricht erinnerte, in dem ich häufig geschlafen hatte.
»Dies ist das einzige Bildmaterial, das wir von einem Schröpfer haben«, erklärte die Professorin ausdruckslos, als ein Standbild von Frederick Wyatt erschien. »Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass sie bösartige Para-
siten sind, die Wirtskörper benötigen, um sich unter den Menschen bewegen zu können. Die einzige Aufgabe eines Schröpfers besteht darin, seinem unglückseligen Opfer die Seele zu entreißen und sie ins Jenseits zu befördern. Dies geschieht jedoch nicht zufällig, sondern folgt festen Regeln, laut denen der Mord entweder von einem Feind des Opfers in Auftrag gegeben oder von einem Menschen verübt werden muss. Im zweiten Fall tritt der Schröpfer als eine Art Aasfresser auf, der die Seele einfängt, bevor sie entfliehen kann.
Schröpfer treten sowohl einzeln als auch in Rudeln auf und hängen sich oft an menschliche Verbrecher. Es ist extrem schwierig, einen Schröpfer zu bezwingen. Genau- er gesagt, alle Quellen empfehlen den Rückzug als klügs- te Strategie. Und zwar einen schnellen Rückzug. Bitte beachten Sie: Wahrhaft Gläubige sind bis zu einem gewis- sen Grad immun gegen ihre Kräfte. Siehe auch: Heiliger Dolch von Anan. Siehe auch: Rudeltaktiken der Schröp- fer.«
Diesmal verschwand das Bild endgültig. Bergman be- obachtete nervös das Enkyklios, als könnte jeden Mo- ment ein neuer Horrorfilm dort ablaufen. Dann suchte er den Parkplatz ab und schaute immer wieder über die Schulter. »Ich sehe kein Rudel.«
»Ich denke nicht, dass eines hier ist«, sagte Vayl.
»Warum nicht?«, wollte Bergman wissen.
»Wenn es eines gäbe, wären wir bereits angegriffen wor- den.«
»Oh. Tja, wenn es euch nichts ausmacht, werde ich trotzdem das Sicherheitssystem installieren, das ich für das Wohnmobil mitgebracht habe. Nur für den Fall, dass das Rudel gerade am Wasserloch ist.« Auf einer Hohn- skala von 1 bis 10 hatte Bergman gerade eine 7,5 erreicht,
was bedeutete, dass er die Hosen gestrichen voll hatte. Ich hielt den Atem an und wartete ab, um zu sehen, ob Vayl verstand, dass Bergman sich beruhigen würde, sobald er das System installiert hatte, oder ob er es ihm übelnahm. In dem Fall würde ich den Rest der Nacht damit verbrin- gen, gesträubte Federn zu glätten. Nicht gerade eine mei- ner Stärken, weshalb es auch so lange dauern würde.
»Ein guter Plan«, sagte Vayl und zog eine Augenbraue hoch, als Bergman seine Kugelschreiber in den Müllcontai- ner warf und zum Wohnmobil zurückging. Zum Glück hatte er keine Ahnung, dass Vayl damit seinen Ich-würde- dir-am-liebsten-den-Arsch-aufreißen-Ausdruck aufge- setzt hatte. Cassandra schien es schon eher zu ahnen. Einen Moment lang sah sie Vayl mit wachsender Beunruhigung an, dann folgte sie Bergman. Nach fünfzehn Sekunden hat- te sie ihn eingeholt, und wenig später waren sie in ein Ge- spräch vertieft.
Der Rest von uns starrte auf die beiden Leichen. Schließlich sagte Vayl: »Cole, ruf im Büro an. Ich denke, es wäre am besten, wenn unsere Leute die beiden entsor- gen. Es braucht schließlich nicht jeder zu erfahren, dass Jasmine weiß, wie man Schröpfer tötet.«
Großartige Idee, Sherlock. Wir wollen sie doch nicht auf den Gedanken bringen, dass sie mich loswerden müssen, bevor ich einen Workshop organisieren kann, mit dem Thema »Wie man einen Schröpfer ersticht«.
Cole nickte und holte sein Handy aus der Tasche.
»Warte noch«, sagte ich. Ich bückte mich und zog dem zweigesichtigen Mann die Uhr vom Handgelenk. Als die Jungs mich erstaunt und ein wenig angewidert ansahen, sagte ich: »Ich möchte Cassandra nicht bitten, die Leiche zu
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