Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)
gab, weil mein Bruder Sepp immer ein ganzes am Stück verdrückte. Das Osterlamberl gab es natürlich erst am Ostersonntag, wenn man die schlatzige (matschige) Brotsuppe mit in Butter angebratenen Zwiebeln vom Karfreitag überstanden hatte. Aber auch das war nicht so schlimm. Nein, ich mochte Ostern nicht besonders, weil wir Kinder von Gründonnerstag bis Ostermontag jeden Tag in die Kirche gehen mussten. Jeden Tag . Also gut, damit es nicht heißt, ich würde schamlos übertreiben: Am Karsamstag hätten wir laut unseren Eltern nicht unbedingt gemusst, aber das war im Prinzip eh schon wurscht, denn man war schon im Rhythmus, und das Feiertagsgewand war auch schon anbatzt (eingetragen).
Karfreitag war für mich am schlimmsten, weil da die Leidensgeschichte des Herrn vorgetragen wurde und die Orgel nicht spielte, das heißt, es war traurig und fad. Und selbst als die Kirche aus war, konnte man die Erleichterung darüber nicht richtig genießen, weil die Orgel uns nicht wie sonst feierlich und doch fröhlich-schwungvoll aus dem Kirchenschiff entließ, sondern alle Kirchgänger irgendwie tonlos bedrückt nach draußen zu den Gräbern ihrer Familien beziehungsweise auf den Vorplatz schlichen.
Neben den vielen anschaulichen Aspekten des Gottesdienstes wie Weihrauch, dem edlen Gewand des Pfarrers, dem schönen Blumenschmuck et cetera, also den ganzen Showeffekten, war Musik immer die wichtigste Komponente für alle Kirchenbesuche. Unser langjähriger Organist Franz Xaver Hintermaier verstand es wie kein Zweiter, mit entsprechender Musik den kirchlichen Anlass zu untermalen, ja, ich möchte sogar sagen, er verstand es, mithilfe der entsprechenden Musikauswahl die Gottesdienstbesucher emotional zu berühren.
An Fronleichnam, wenn der Pfarrer mit der gesamten Ministrantenschar plus Fahnenabordnungen aller Vereine der Gemeinde in die Kirche einzog, dann untermalte feierlich imposante Orgelmusik das Spektakel. Und immer wenn an Allerheiligen die Verstorbenen des vergangenen Jahres vorgelesen wurden, dann war jeder im Kirchenschiff tief ergriffen, auch wenn gerade kein enger Verwandter oder Freund unter den Verblichenen war, nicht zuletzt aufgrund der pietätvollen, leisen Melodie, die Franz Xaver immer dazu spielte. Er verstand eben etwas von der Kraft der Musik, obwohl sein eigentlicher Beruf wenig musikalisch anmutete: Franz Xaver war Leiter der örtlichen Raiffeisen-Filiale mit angrenzendem Lagerhaus. Aber seine Leidenschaft galt der Musik, und deshalb sah man ihn auch nur entweder pfeifend oder singend: Ob er gerade seine Leibesfülle aus seinem tiefer gelegten Sportwagen hievte oder sich am Wirtshaustisch mit eleganter Besteckführung (der kleine Finger war meist leicht abgespreizt) eines seiner geliebten Wurstsemmerln belegte, immer hatte er eine imaginäre Melodie auf den Lippen. Und selbst wenn es beim Wirt mal wieder etwas später wurde (und ich glaube, ich diffamiere ihn nicht, wenn ich behaupte, es ist sehr oft sehr spät geworden) und Franz Xavers Kopf ob der latenten Müdigkeit drohte, auf die Tischplatte zu sinken, ging plötzlich ein Rucken durch seinen massigen Körper, die Statur straffte sich, und er schob sich – quasi im Erwachen – pfeifend die Brille auf seiner Nase zurecht. Und fast zeitgleich eine Scheibe Wurst in den Mund.
Denn seine Leidenschaft für Musik wurde nur noch übertroffen von seiner Vorliebe für gutes Essen und guten Wein. Was dazu führte, dass im Laufe der Jahre sein fröhliches Pfeifen immer etwas gepresster klang, weil es ja schließlich galt, einen massiveren Klangkörper in Schwingung zu versetzen. Wenn ich jetzt gemein wäre, dann würde ich sagen, Franz Xaver verfügte über eine stattliche bajuwarische Wampe, aber das klänge etwas zu hart, denn selbst seine Leibesfülle hinderte ihn nie daran, sich ausgesprochen sportlich-elegant zu kleiden, und man sah ihn bei feierlichen Anlässen nie ohne den perfekten Anzug – wie immer umgeben von einer dezenten Aftershave-Wolke. Jawohl, gerochen hat er immer sehr gut, der Franz Xaver. Selbst am Faschingsdienstag, wenn er schwitzend vor Anstrengung und vom vielen Bier in der Wohnküche meiner Eltern die »Quetschn« (das Akkordeon) spielte und meine Eltern und die Freunde meiner Eltern, allen voran die Familie Liegl (die Lieferanten der diversen Sportwagen von Franz Xaver), laut irgendwelche Stimmungslieder zum Besten gaben. Oder wenn er – wie jedes Jahr – mit der Katholischen Landjugend einen zünftigen Bauernschwank einstudierte,
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