Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)
der dann drei bis vier Mal im ersten Stock vom Gasthof Rauch in Grucking aufgeführt wurde. Auch ich habe vor vielen, vielen, vielen (vielen, vielen, vielen) Jahren unter seiner Regie in einem bäuerlichen Schwank meine ersten Schritte auf ebendieser Bühne gemacht. Und mich während des Spielens immer gewundert, dass der beleibte Franz Xaver in seiner kleinen Regienische in den engen Kulissen unseres »Bäckermeister Striezel« nicht erstickt ist. Denn er war für uns ungeübte Laienschauspieler natürlich nicht nur Regisseur und Spielleiter, sondern auch oft benötigter Souffleur. Gerade, wenn die ganze Familie, die Verwandtschaft, alle Nachbarn, der Herr Pfarrer, der Bürgermeister, der Chef der Raiffeisenbank (also: der Franz Xaver) und überhaupt alle wichtigen Leute der Gemeinde anwesend waren, war man natürlich besonders nervös.
Auch wenn ein Vereinsjubiläum, eine Fahnenweihe oder Ähnliches anstand, dann konnte man beim »Bunten Abend« im Bierzelt darauf zählen, dass der Franz Xaver für eine Horde junger Burschen zwischen acht und vierzehn Jahren ein sogenanntes Derblecken verfasst haben würde. Und im Gegensatz zum allseits berühmten Derblecken auf dem Nockherberg wurde bei Franz Xavers Bühnenstück niemand geschont. Ich kann mich an eine wohlbekannte Dame erinnern, die wutentbrannt ob ihrer Nennung bei einer solchen Aufführung das Zelt verlassen hat. Und Franz Xaver erzählte mir selbst von vielen Drohanrufen am Tag nach dem jeweiligen Derblecken, wo eifrige und erboste Mitbürger meinten, die Ehre ihrer Gattin, ihrer Kinder beziehungsweise ihre eigene verteidigen zu müssen. Ich kann mich sogar sehr gut an eine Bemerkung über meine Wenigkeit erinnern, als Franz Xaver einen kleinen Buben auf der Bühne über mich sagen ließ, dass man sich wohl einen Spachtel besorgen müsse, um abends die viele Schminke aus meinem Gesicht zu entfernen. Ich hab sehr gelacht. Meine Mama auch, denn sie war ja auch selber schon oft Gegenstand seines Bühnenspotts. Außerdem kannte sie – obwohl des Münchner Nachtlebens zwar völlig unkundig – doch den legendären Spruch: »In ist, wer drin ist!«
Über viele Jahre hinweg saß der Franz Xaver jeden Samstagvormittag bei uns im Wohnzimmer, um einem meiner Brüder Akkordeonunterricht zu erteilen. Meine Mutter und ich waren währenddessen meist in der Küche, um das Mittagessen vorzubereiten (Mama) und diverse Kuchen für das Wochenende zu backen (ich). Die Tür zum Wohnzimmer war aus Glas, und wenn ich nach einer Viertelstunde Akkordeonunterricht plötzlich keine Anweisungen von Franz Xaver mehr gehört habe, dann brauchte ich nicht einmal mehr durch die Glastür zu blinzeln, um zu wissen, dass Franz Xaver neben meinem sich abmühenden Bruder ein kleines Erholungsschläfchen hielt. Ob es daran lag, dass er immer so viel um die Ohren hatte, es gestern bei der Schafkopfrunde wieder spät geworden war oder mein Bruder keiner weiteren Anweisung mehr bedurfte, weil er schon so gut spielte, das wage ich nicht zu beurteilen.
Heute gehe ich nur noch ganz selten in die Reichenkirchner Kirche, an Weihnachten jedoch immer. Aber jedes Mal denke ich kurz vor Gottesdienstbeginn, dass doch der Franz Xaver leise summend oder pfeifend aus der Sakristei kommen müsste, wo er soeben die letzten Details mit dem Hochwürden besprochen hat. Wie immer mit einem Stapel Noten in der einen und seinem obligatorischen weinroten Handgelenkstäschchen in der anderen Hand. Aber er wird nie wieder aus dieser Sakristei kommen, denn er ist vor ein paar Jahren – viel zu früh – gestorben.
In einer Gemeinde, wo jeder jeden kennt, vermisst man den Einzelnen mehr.
Und Neulinge fallen sofort auf. Besonders an Allerheiligen und an den Weihnachtsfeiertagen waren oft auswärtige Verwandte zu Besuch bei den Gemeindegottesdiensten. Was natürlich gleich jedem hervortrat. Es war auch schwer, unerkannt zu bleiben bei so einer akribischen Anordnung der Gläubigen. In Reichenkirchen war und ist es übrigens immer noch so, dass die Frauen auf der linken Seite des Kirchenschiffs sitzen und die Männer rechts. Ich vermute, das liegt daran, dass die Ehen bei uns auf dem Land – bis auf wenige skandalöse Ausnahmen – nicht geschieden wurden und die Ehepartner über viele, viele Jahrzehnte miteinander verheiratet waren beziehungsweise sein würden. Und da will man doch wenigstens in der Kirche seine Ruhe haben.
Die Kinder sitzen im Kirchenschiff ganz vorn, dann die Frauen links und die Männer rechts
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