Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)
ihren kräftigen Pratzen das zweite Glas vom Tablett schnappten: »A Bier wär’ mir lieber!« Ich stand direkt am Hauseingang der Wirtschaft neben dem Wirt, und als wir diese ganze Horde schwitzender, hemdsärmeliger Burschen in ihren viel zu warmen Anzügen betrachteten, die versuchten, das Gerüst des Fotografen zu erklimmen, meinte der Wirt kopfschüttelnd zu mir: »Mei, die Räusch wenn scho gspiem waarn!« Ein Satz, den ich gern unübersetzt so stehen lassen würde.
Vor der Wirtschaft wartete schon die Kapelle, vier kräftige Hobbymusiker in Landhaustracht mit Hemden, die aussahen, als ob sie aus alten Mehlsäcken gefertigt worden wären. Ich kannte die Band und wusste, die würden in der »Weinstube« richtig Stimmung machen, außerdem gefiel mir der Gitarrist schon immer ziemlich gut, obwohl ich eigentlich nicht auf Vokuhila-Frisuren stehe. Als er mir zuzwinkerte, wurde ich so verlegen, dass ich mich umdrehte, wo ich eine der wichtigsten Figuren dieses Tages noch vor der Braut erblickte: den Hochzeitslader, in Bayern Progoder genannt.
Der Progoder ist so etwas wie der Zeremonienmeister oder Conférencier einer jeden Hochzeit: Er organisiert den Ablauf, stimmt sich mit dem Wirt und der Kapelle ab, er sammelt die Kuverts mit dem sogenannten Ehrgeld (dazu später mehr) sowie Trinkgeld für die Kellnerinnen, das Küchenpersonal und die Musiker sowie sich selbst, er hält das Podium der Musiker von betrunkenen Selbstdarstellern frei, ruft bei Bedarf Krankenwägen, verhindert oder schlichtet bei Raufereien und ist entscheidend dafür verantwortlich, dass sich die Gäste gut amüsieren. Er singt, dichtet, gibt lustige Anekdoten aus dem Leben des Brautpaares und deren Familien zum Besten und erzählt Witze. Ein guter Progoder schafft es mit Charme, Witz und Esprit, dass sein Publikum ihm an den Lippen hängt und die Stimmung dadurch immer fröhlicher und ausgelassener wird. Ein schlechter hingegen kann es fertigbringen, dass in einem dicht gedrängten Wirtshaussaal innerhalb weniger Minuten eine Stimmung herrscht wie in der Steilwand am Nanga Parbat, wenn man plötzlich feststellt: »Jessas, wo is’n jetzt das Seil hin?«
Der Job eines Progoders ist in der Tat ein sehr heikles Geschäft, und es lauern mehr Fettnäpfchen auf einen als beim Neujahrsempfang auf Schloss Bellevue: Witze zu machen, die frech und schlüpfrig sind, aber nicht zu ordinär, Anekdoten zu erzählen, die boshaft sein dürfen, aber immer charmant bleiben müssen, ein Publikum zu begeistern, dass aus Alten und Jungen, Gespickten und weniger gut Situierten, aus Schüchternen und Gschaftlhubern, aus Akademikern und aus arbeitender Bevölkerung besteht, das ist eine große Kunst, die ich immer sehr bewundert habe. Und da Humor ja auch immer eine Frage des persönlichen Geschmacks ist, scheiden sich oft die Geister bei der Beurteilung des Progoders.
Der Progoder dieser Hochzeit, den ich genauso wie die Musiker schon kannte (ein Guter!), verkündete nun im Hof des Wirthauses laut singend und in Reimform, was uns die nächsten Stunden erwartete: erst Foto, dann Einzug in den Saal, die ersten Tänze, dann Mittagessen.
So sollte es geschehen, und als wir alle endlich unter vielen Scherzen und Gaudi heil vom Gerüst des Fotografen heruntergeklettert waren und jeder seinen Platz im Saal eingenommen hatte, war es Zeit für den ersten Tanz des Brautpaares. Der Bräutigam war ein sehr guter Tänzer, was für die Braut bedeutete, dass er sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gut durch die Stürme des Lebens führen würde, und für uns, dass die Tanzfläche für den Rest des Tages immer gut gefüllt sein würde. Nach dieser ersten Bewährungsprobe ihres gemeinsamen Lebens wurde das Brautpaar vom Progoder nach unten in die Wirtshausküche beordert, um zusammen mit der Brautmutter und den Taufpaten die »Suppen zu probieren«. Bei diesem altbayerischen Brauch geht es weniger um die Konsistenz der Suppe – ein erfahrener Wirtshauskoch braucht keinen Pulk von Gscheidhaferln (Schlaummeiern) in Waschseide und Tüll, um eine schmackhafte Suppe hinzubringen –, sondern vielmehr um ein ordentliches Trinkgeld für die Küchenbrigade abzudrücken, die mittags um zwölf bereits ein halbes Tagwerk hinter sich hatte. Danach wurde im Saal die Suppe serviert, eine klassische Hochzeitssuppe: Leber- und Bratspatzl zusammen mit Pfannkuchenstreifen (Fritatten) in einer kräftigen Rinderbrühe. Früher war ich kein Suppenfan, aber je älter ich werde, umso mehr weiß ich
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