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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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eine Schachtel mit nicht müde machender Erkältungsarznei hervor. Sie drückt acht Tabletten aus ihren Plastikblasen und starrt sie an, wie sie in ihrer Hand liegen. Sie sind klein und rot. Es sind so viele; für jemanden von ihrer Statur scheint es eine unmöglich große Anzahl Pillen zu sein, um sie alle einzunehmen. Aber sie tut es trotzdem, steckt sich alle auf einmal in den Mund und schluckt sie mit einem einzigen großen Schluck Wasser hinunter.
    Mein neunjähriges Ich schaut ihr bei alldem zu, während ich geduldig darauf warte, dass sie mir meinen halben Apfel reicht. Als sie sich schließlich mir gegenüber an den Tisch setzt, schenkt sie mir ein breites Lächeln. »Da«, sagt sie und gibt mir meine Hälfte.
    »Danke.« Ich betrachte meine Apfelhälfte, aber ich nehme keinen Bissen davon.
    »Mami?«
    »Ja?«
    »Warum wiegst du unser ganzes Essen?«
    Meine Mom betrachtet ihre eigene Hälfte des Apfels. Sie nimmt die Frage ernst und denkt eine ganze Weile darüber nach.
    Schließlich sagt sie: »Liz, wenn man erwachsen ist, kann das Leben sehr kompliziert werden. Überall um dich herum geschehen Dinge, über die du keine Kontrolle hast. Du kannst nicht kontrollieren, was den Menschen widerfährt, die du liebst. Du kannst nicht jeden Aspekt deines Lebens kontrollieren. Aber du kannst Teile davon kontrollieren. Bruchstücke. Und manchmal, wenn sich alles andere um so vieles größer anfühlt als du selbst, so gewaltig, dass du unmöglich allein damit zurechtkommen kannst, ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass es da etwas gibt, das du gänzlich kontrollieren kannst – auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist.« Sie schaut mich prüfend an. »Verstehst du, was ich damit meine?«
    Ich nicke. »Ja, ich glaube schon.«
    »Gut. Es ist gut, diese Lektion zu kennen.« Und wieder lächelt sie.
    »Sie ist krank«, murmle ich. »Ich wusste, dass sie krank war, aber, meine Güte. Das hier ist … «
    »Es ist schrecklich«, beendet Alex den Satz für mich.
    Ich sehe ihn an und versuche zu lächeln. »Kontrolle«, sage ich. »Genau wie ich es dir gerade erklärt habe.«
    Wir verfolgen, wie meine Mutter und ich schweigend unseren Apfel essen; das einzig vernehmbare Geräusch ist das unserer Kiefer, die das Fruchtfleisch zerkauen.
    »Möchtest du verschwinden?«, erkundigt er sich.
    Ich nicke. »Okay.«
    Alex drückt mit seiner kühlen Hand meine Schulter und schließt die Augen.
     
    Wieder zurück in der Gegenwart, gehen wir weiter. Wir sind still; das Schweigen ist ein bisschen verlegen. Ich weiß, dass wir beide über das nachdenken, was wir gerade gemeinsam gesehen haben. Zuvor sind wir dahingeschlendert, doch jetzt gehe ich entschlossen, schneller, jeder Schritt in meinen Stiefeln ein winziges Fegefeuer, bis zum Ende der Hauptstraße. Wir kommen an den Touristenfallen vorbei – die Leute lieben kitschiges Zeug aus idyllischen Neuengland-Städtchen –, bis wir hinter der Baptistenkirche zu einer Ansammlung neuerer, kleinerer Häuser gelangen.
    Die Schule ist heute bereits aus. Mr. Rileys Wagen steht in der Einfahrt, und das Licht in seinem Haus ist an. Und Richie ist im Wohnzimmer und lässt zwischen sich und Hope einen Ball auf dem Hartholzfußboden hin und her rollen.
    »Woher wusstest du, dass er hier ist?« Alex setzt sich neben Richie auf den Boden.
    »Weil er nirgendwo anders hinkonnte. Er hat keinen Wagen und kann keinem Erwachsenen trauen. Abgesehen von diesem Cop ist Mr. Riley seit Urzeiten der erste Erwachsene, mit dem ich Richie eine ernste Unterhaltung führen sah. Er mag keine Erwachsenen.«
    »Aber sie kennen einander kaum. Und Mr. Riley mag ihn nicht einmal.«
    »Beide kannten mich«, erkläre ich Alex. »Und Richie wusste, dass ich Mr. Riley vertraut habe.«
    Ich setze mich auf Richies andere Seite. Mir wird bewusst, dass Alex recht hatte, was Tiere und Babys betrifft: Hope kann uns offensichtlich sehen.
    »Was glaubst du, warum sie uns sieht?«, frage ich Alex.
    »Ich weiß es nicht«, sagt er. »Ich habe viel darüber nachgedacht, und meine Vermutung ist, dass Babys es einfach noch nicht besser wissen.«
    Hope ist viel größer als in meiner Erinnerung; sie muss mittlerweile fast zwei Jahre alt sein. Sie gluckst fröhlich, zeigt auf mich und sagt: »Mädchen!« Ich lächle und halte einen Finger an meine Lippen.
     
    In der Küche streiten sich Mr. Riley und seine Frau, die Karen heißt; ihre Stimmen sind gedämpft. Ihre Auseinandersetzung wird von Karens geradezu aggressiver Zubereitung von

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