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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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dann?«
    Ich presse meine Lippen zusammen. Ich kann spüren, wie sich mein Rückgrat versteift, und mein Quadrizeps spannt sich an, als ich vollkommen reglos dastehe und die lächelnden Kunden in dem Laden anstarre. »Es geht darum, die Kontrolle zu behalten.«
    Er schüttelt den Kopf. »Das ist verrückt. Du bist so dünn.« Und er zögert. »In der Nacht, in der du starbst, hast du doch Geburtstagskuchen gegessen, oder?«
    »Einen Bissen.« Als die Worte über meine Lippen kommen, kann ich ihn beinahe schmecken: den feuchten Vanillekuchen und die cremige Schokoladenglasur. Ich kann spüren, wie das lange verlorene Gefühl der Kraft, der Disziplin, irgendwo in meinem Innern einrastet. »Nur zum Probieren.«
    Er streckt seinen Arm nach mir aus und legt die Handfläche auf meinen flachen Bauch, um mich ins Fleisch zu zwicken. Er bekommt kein Fettgewebe zu fassen, bloß Muskeln und Organe und Haut. »Dieses ganze Training hat sich für dich ja wirklich bezahlt gemacht, totes Mädchen.«
    Ich schließe meine Hand um seinen Arm. Er zuckt kaum zusammen. »Willst du wissen, warum ich so bin?« Noch während ich die Worte ausspreche, ist es, als würde ihr Wahrheitsgehalt mir selbst zum ersten Mal wirklich bewusst werden. Aha. Natürlich.
    »Sicher«, sagt er. »Warum bist du so, Liz?«
    Ich drücke seinen Arm fester. Ich brauche nichts zu sagen; inzwischen weiß er, wie die Sache läuft.
    Wir schließen beide unsere Augen.
    Dann stehen wir in der Küche meines Elternhauses. Alles ist so wie gehabt: der Grundriss, der Ausblick auf den Sund vom Hinterfenster aus, die schwarzweiß karierten Porzellanfliesen … Und doch ist alles anders. Meine Mutter steht in kurzen Trainingsshorts und einem Sport-BH vor dem geöffneten Kühlschrank. Ich kann all ihre Rippen sehen. Ihre Haut ist weiß und käsig. Sie ist barfuß und tippt mit ihren manikürten Fingernägeln gegen die Kühlschranktür.
    »Ich habe ganz vergessen, wie diese Küche früher aussah«, sage ich zu Alex. »Heute ist alles ganz anders.«
    Er schaut sich um. »Was du nicht sagst. Deine Mom und Nicole, sie sind sich nicht sonderlich ähnlich, oder? Nicole ist – was? Eine exzentrische Sexbombe. Und deine Mom …« Sein Blick schweift zu ihr zurück, zu ihrem Oberkörper, zum deutlich sichtbaren Umriss ihres Rückgrats. »… wie war sie so?«
    Ich denke eine Minute darüber nach. Zuweilen fällt es mir schwer, mich an die guten Seiten meiner Mutter zu erinnern, auch damals, als ich noch lebte; sie war den Großteil meiner Kindheit über krank. Doch ich hasse es, Alex gegenüber zugeben zu müssen, dass ich kein Übermaß glücklicher Erinnerungen an sie habe. Was jedoch nichts an der Tatsache ändert, dass ich sie vermisse. Deshalb sehe ich sie jetzt kein bisschen weniger gern. Sie ist meine Mutter .
    »Nun«, beginne ich. »Sie war anders als Nicole, das ist sicher. Sie hielt das Haus sehr ordentlich, und immer war alles elegant und modern und sauber.« Und ich sehe mich in der Küche um. Die Wände sind in einem blassen, klaren Beige gehalten. Sämtliche Geräte sind aus rostfreiem Stahl: Geschirrspüler, Weinkühlschrank, Kühlschrank, Herd, Mikrowelle. Nirgends steht Geschirr herum. Auf dem Tresen stehen keine Lebensmittel; keine offenen Frühstücksflockenschachteln, keine gemütlich in einem Korb liegenden Bananen, keine Tortilla-Chips oder Sprudelflaschen.
    Jetzt liegt immer und überall Essen in der Küche verstreut; Nicole isst gern . Außerdem hat sie nach dem Tod meiner Mutter neu dekoriert. Praktisch unmittelbar nach ihrem Einzug verschwanden die alten Geräte, um durch weiße ersetzt zu werden. Nicole strich die Wände hellgrün und versah sie selbst mit Schablone mit gelben Lilien, deren fragile grüne Blätter und Stängel so sorgsam von Hand gemalt sind, dass sie beinahe echt wirken. Sie hängte Fotos an den Kühlschrank. Ich hasse es, das zuzugeben – es kommt mir wie ein Verrat an meiner Mutter vor –, doch in vielerlei Hinsicht hat Nicole dafür gesorgt, dass sich das Haus mehr wie ein Zuhause anfühlte.
    Abgesehen davon, dass dies unser Zuhause war , als meine Mom noch lebte. Es war bloß eine andere Art von Zuhause.
    Ich sitze am Küchentisch, in dessen Mitte eine große, raureifbeschlagene Glasschüssel steht, die mit glänzenden, hübschen künstlichen Früchten gefüllt ist: Plastikäpfel, -orangen, -birnen und -nektarinen. Anschauen ja, aber nicht essen.
    »Ich bin neun«, murmle ich und schaue mich an. Ich sehe meiner Mutter so ähnlich:

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