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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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Wir tragen unser langes blondes Haar beide in zwei geflochtenen Zöpfen, die uns fast bis zur Taille reichen; wir sind beide dünn, was bei meiner Mutter allerdings schon fast verheerende Auswirkungen hat, wohingegen ich bloß ein zierliches Kind bin. Wir haben dieselben Augen, dieselbe Nase, dieselben kleinen Ohren, dieselben winzigen, dicht anliegenden Ohrläppchen. Es ist unverkennbar, dass ich zu ihr gehöre.
    »Woher weißt du, wie alt du bist?«
    Ich will es eigentlich nicht laut aussprechen, aber ich tue es dennoch. »Weil meine Mutter in einigen Wochen sterben wird. Das kann ich sehen.«
    »Oh.« Er schluckt. »Tut mir leid.«
    Ich schüttle den Kopf. »Ist schon in Ordnung. Lass uns … einfach zusehen, in Ordnung?«
    Meine Mutter greift ins Obst- und Gemüsefach des Kühlschranks und holt mit ihrer knochigen Hand einen großen gelben Apfel daraus hervor. Sie starrt ihn einen Moment lang an, mustert ihn eingehend.
    »Ich bin hungrig, Mami«, sage ich zu ihr.
    »Du hast vor anderthalb Stunden bei Richie gegessen«, murmelt sie. »Dein Magen ist noch voll, Schatz.«
    »Aber ich bin hungrig .«
    Sie dreht sich zu mir um, den Apfel in der Hand. »Okay. Möchtest du einen Snack?«
    Ich nicke.
    Sie hält mir den Apfel hin. »Wir können teilen. Wie wäre das?«
    »Kann ich meine Hälfte mit Erdnussbutter bekommen?«
    Die Augen meiner Mom sind dunkelblau, im exakt selben Farbton wie die meinen. Selbst in Sportkleidung – vermutlich hat sie gerade ihre Übungen beendet – ist ihr Gesicht perfekt geschminkt. Ihr Lippenstift wurde gerade unlängst aufgefrischt.
    Ich habe ein gelbweiß kariertes Oberteil und einen dazu passenden Rock an, ein Ensemble, das zum Spielen bei Richie übertrieben vornehm wirkt. Und mir fällt auf, dass ich ebenfalls ein bisschen Make-up trage. Ganz subtil, aber zweifellos vorhanden: etwas Rouge, ein wenig silbernen Lidschatten und Lipgloss in derselben Farbe wie der meiner Mom. Alles wurde mit Bedacht aufgetragen, mit geschickter, erfahrener Hand. Zweifellos ist das das Werk meiner Mutter. Sie hat nie eingesehen, was daran falsch sein soll, mich Schminke tragen zu lassen, nicht einmal im Alter von neun Jahren.
    »Bist du sicher, dass du Erdnussbutter möchtest?«, fragt sie ruhig.
    »Ja. Warum nicht?«
    »Erdnussbutter hat hundert Kalorien pro Esslöffel. Acht Gramm Fett«, sagt sie. »Also, Liz …« Sie beugt sich zu mir vor. »Weißt du, wie viele Kalorien ein Gramm Fett hat?«
    Ich nicke. »Neun Kalorien pro Gramm«, sage ich. Diese Tatsache rezitiere ich aus dem Gedächtnis. Selbst mit neun Jahren erzieht meine Mutter mich bereits zum Schlanksein. Ist ihr selbst bewusst, wie krank sie ist? Kümmert sie das überhaupt? Ich will sie anschreien, ihr zurufen, dass sie gefälligst essen soll, dass sie leben soll, doch ich weiß, dass das keinen Unterschied machen würde. In einigen Wochen wird sie tot sein.
    »Wenn man also acht Gramm Fett hat und jedes Gramm neun Kalorien enthält«, sagt sie, »wie viel Kalorien hat das Fett dann?«
    Ich kaue auf meiner glänzenden Unterlippe herum, während ich darüber nachdenke. »Ich weiß es nicht.«
    Das Gesicht meiner Mutter ist ernst. »Du weißt nicht, wie man acht mal neun multipliziert, Elizabeth?«
    Ich schüttle den Kopf. Nein.
    »Zweiundsiebzig«, verkündet sie. »Das sind fast fünfundsiebzig Prozent Fettgehalt. Und wie viel unserer Ernährung sollte aus Fett bestehen?«
    Ich beiße mir fester auf die Unterlippe und starre auf die Tischplatte. Ich wirke zutiefst verlegen. »Ich erinnere mich nicht daran.«
    »Doch, du erinnerst dich daran«, sagt sie sanft. »Was habe ich dir beigebracht?«
    »Dreißig Prozent«, sage ich zu Alex.
    Beinahe gleichzeitig flüstert mein jüngeres Ich: »Dreißig Prozent.«
    »Das ist richtig.« Meine Mutter lächelt. »Also, willst du immer noch Erdnussbutter?«
    Ich schüttle den Kopf, ohne sie anzusehen.
    »Ich hasse Erdnussbutter«, erkläre ich Alex.
    »Kein Wunder«, sagt er. »Gott, das ist ja grässlich.«
    »So war meine Mom. So war sie immer.«
    Wir verfolgen, wie meine Mutter, auf Zehenspitzen stehend, in die obere Ecke eines Küchenschranks greift. Sie holt eine kleine digitale Küchenwaage herunter und wiegt den Apfel. Dann nimmt sie ihn von der Waage, schneidet ihn entzwei und wiegt jede Hälfte nochmals einzeln ab.
    Bevor sie sich an den Tisch setzt, greift sie in einen anderen Schrank voller Fläschchen mit verschreibungspflichtigen Medikamenten und frei verkäuflichen Pillenpackungen und holt

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