Manche Maedchen muessen sterben
das von Alex aufsuchte. Und nun wirkt sie selbst aus der Ferne ganz ruhig.
»In Ordnung«, sage ich, nachdem sie fort ist. »Was hatte das alles zu bedeuten? Was tut ihr so leid?«
Alex legt seinen Kopf zur Seite. »Ich denke, ihr tut einfach bloß leid, was mir zugestoßen ist, das ist alles.«
Doch seine Erklärung befriedigt mich nicht; das erklärt immer noch nicht, warum sie sein Grab besucht, oder die sonderbare Art und Weise, wie sie das »Ave Maria« rezitiert hat.
»Alex«, wiederhole ich, bemüht, streng zu klingen. »Was verschweigst du mir?«
Er seufzt und fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Das ist schwer zu erklären. Aber ich könnte es dir zeigen, wenn du möchtest.«
»Es mir zeigen? Du meinst, wie …«
»Ja.« Er nickt. »Ich nehme dich mit. Dann kannst du es dir selbst ansehen.«
»Aber ich dachte, du möchtest nicht, dass ich etwas aus deinem Leben sehe.«
Er hat immer noch ein verträumtes Lächeln auf den Lippen. »Diesmal mache ich eine Ausnahme.«
Bevor ich das Angebot annehme, kommt mir etwas in den Sinn. »Das war nicht das erste Mal, dass sie bei deinem Grab war, oder?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein.«
Ich kann es kaum glauben. Caroline. Hier. Die Alex besucht. Die für ihn betet und ihm erklärt, dass es ihr leidtut – aber was genau tut ihr leid? So verblüfft ich bin, stelle ich doch auch gleichzeitig fest, dass ich mich sehr für Alex freue. So hat er abgesehen von seinen Eltern zumindest eine Besucherin. Das ist das Mindeste, was er verdient. »Wie oft kommt sie hierher?«
»Nicht allzu häufig. Alle paar Wochen.« Ich bin sicher, dass er jetzt erröten würde, wenn er noch am Leben wäre. »Als sie das erste Mal herkam, war ich sehr überrascht«, sagt er. »Es ist erstaunlich, dass sie sich überhaupt an mich erinnert.« Und er wirft mir einen erwartungsvollen Blick zu. »Möchtest du es nun wissen oder nicht? Ich zeige es dir, aber das ist alles. Sonst nichts.«
»Okay.« Ich strecke die Hand nach ihm aus und ergreife sein Handgelenk. »Gehen wir.«
Sobald wir in Alex’ Vergangenheit eingetaucht sind, öffne ich die Augen und stelle fest, dass wir inmitten eines großen Raums voller langer Holztische stehen. Ich denke, dass wir uns in einer Art Keller befinden; der Raum hat keine Fenster, und am hinteren Ende, jenseits einer Doppeltür, sehe ich eine Treppe.
»Wo sind wir?«, frage ich.
»Das weißt du nicht?« Alex wirkt amüsiert.
»Nein.« An der Wand mit der Doppeltür bemerke ich ein lebensgroßes Farbgemälde von Jesus. Er hält die Arme weit ausgebreitet und blickt nach unten, dorthin, wo zu seinen Füßen eine Gruppe Kinder gemalt ist. An derselben Wand ist eine Tafel, auf der in adretter, geschwungener Handschrift mehrere Bibelverse geschrieben stehen.
»Es ist irgendeine Art von Kirche«, sage ich. »Ist das die Sonntagsschule?«
»Es ist der Kommu«, sagt Alex zu mir.
Ich werfe ihm einen verständnislosen Blick zu.
»Der Kommunionsunterricht«, erklärt er.
»Kommunion?«, wiederhole ich. »Was ist das?«
»Das ist etwas für katholische Kinder. Man geht ein Jahr lang zum Unterricht und dann nimmst du an deiner Erstkommunion teil.« Er hält inne. »Du weißt doch, was das ist, oder?«
Ich nicke. »Sicher. Wein und Oblaten, richtig?«
Eine Sekunde lang sieht Alex aus, als würde er zu einer umfassenden Erklärung der Kommunion ansetzen – offensichtlich steckt wesentlich mehr dahinter, als mir bewusst ist –, doch er zügelt sich und schüttelt mit einem schiefen Grinsen den Kopf. »Ich bin in der ersten Klasse«, sagt er und nickt in den Raum. An jedem der Tische sitzen ungefähr acht Kinder. Er deutet auf eines davon. »Gleich da drüben.«
Ich entdecke ihn sofort und schlage eine Hand vor den Mund. »Alex«, sage ich, »du bist ja bezaubernd!« Auch das stimmt; Alex ist ein niedliches Kind. Seine Wangen sind voll und rosa. Unter einer Jeanslatzhose trägt er ein T-Shirt mit Spiderman vorne drauf. Sein Haar ist glatt und ein bisschen zu lang; sein Topfschnitt hängt ihm bis in die Augen. »Oooh«, sage ich und knuffe ihn. »Du warst ja ein ganz Süßer.«
»Hör auf damit«, sagt er verlegen. Doch er lächelt ebenfalls.
»Alle sind so still«, stelle ich fest. Man würde doch annehmen, dass es in einem Raum voller Kinder lauter zugehen würde. Aber sie sitzen alle mit geschlossenen Mündern da und haben ihre Augen nach unten gerichtet, als würden sie darauf warten, dass irgendetwas geschieht. Während ich sie ansehe, höre
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