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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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zusammengesteckt.
    »Gegrüßet seiest du, Maria, voll der Gnade«, wiederholt Caroline, doch ihr Gesicht wirkt noch immer panisch. »Das meiste weiß ich, Alex. Bloß das Ende nicht. Ich vergesse immer, wie der letzte Teil geht. Und jetzt ist es zu spät.«
    »Nein, ist es nicht«, sagt Alex. »Ich helfe dir. Sag’s nochmal auf.«
    Caroline nickt. »Gegrüßet seiest du, Maria, voll der Gnade«, beginnt sie. »Du bist gebene… gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus … Bitte für uns …« Sie kneift ihre Augen fest zusammen. »Den Rest weiß ich nicht.«
    »Bitte für uns Sünder«, beendet Alex den Satz für sie.
    »Bitte für uns Sünder«, echot Caroline.
    »Jetzt und in der Stunde unseres Todes«, verkündet Alex.
    »Jetzt und in der Stunde unseres Todes.«
    »Jetzt und in der Stunde unseres Todes«, wiederholt er.
    »Jetzt und in der Stunde unseres Todes.«
    »Jetzt und in der Stunde unseres Todes«, sagt er wieder.
    Caroline öffnet ihre Augen, um ihn anzusehen. »Jetzt und in der Stunde unseres Todes.«
    Alex lächelt sie an. »Amen.«
    Wir sehen zu, wie sie noch einige Minuten länger in dem Schrank sitzen, während Caroline das Gebet übt. Schließlich stehen beide auf und kehren in den Klassenraum zurück.
    Alex und ich stehen allein im Garderobenschrank. »Caroline erinnert sich an diesen Tag«, sagt er. »Selbst nach all diesen Jahren. Ist das zu glauben? Wir waren niemals Freunde, nicht einmal als Kinder. Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder miteinander gesprochen haben, nachdem das hier passiert ist. Es waren bloß einige Momente in unserem Leben, aber sie hatten eine Bedeutung.« Er hält inne. »Sie hatten für uns beide eine Bedeutung.«
    »Sie hat mir nie davon erzählt«, sage ich. »Nicht einmal, als wir gemeinsam zu deiner Beerdigung gegangen sind. Man würde doch eigentlich annehmen, dass sie etwas davon gesagt hätte.«
    Er zuckt die Schultern. »Was gab’s da schon groß zu erzählen? « Er schaut sich einen Augenblick lang in der Kammer um und sieht dann wieder mich an. »Jetzt weißt du also, woher wir uns kennen«, sagt er.
    Ich lächle. »Danke, dass du es mir gezeigt hast.«
    Über uns brummt die Neonröhre an der Decke. Ohne ein weiteres Wort strecken wir die Hände nacheinander aus und lassen die Vergangenheit davongleiten.
     
    Wieder zurück auf dem Friedhof, einigen wir uns darauf, dass wir beide bereit für einen richtigen Ortswechsel sind. Während wir gehen, kann ich nicht aufhören, an Caroline zu denken, die an Alex’ Grab kniet, und daran, wie süß ihr gemeinsames Erlebnis war. Ich will noch etwas ausführlicher darüber sprechen, um einen besseren Eindruck von Alex’ Vergangenheit zu bekommen, aber ich möchte nicht aufdringlich sein. Er hat mir bereits mehr gezeigt, als ich erwartet hätte, dass er mir gegenüber preisgeben würde.
    Alex scheint ebenfalls über irgendetwas nachzudenken. Beim Gehen schweigt er lange Zeit. Dann, quasi aus dem Nichts, sagt er: »Hey, Liz? Als wir uns neulich unterhalten haben, bei mir daheim, hast du, glaube ich, gesagt, dass du nicht geahnt hast, dass dir etwas Schreckliches zustoßen würde.«
    »Das stimmt«, sage ich.
    »Aber wie kann das sein?«, fragt er. »Ich meine, selbst Caroline wusste, dass etwas Schlimmes passieren wird. Wie ist es möglich, dass du nicht die leiseste Ahnung hattest?«
    »Das habe ich so nicht gesagt. Ich sagte, ich sei mit dem Tod vertraut. Aber ich habe dir die Wahrheit gesagt, Alex. Ich meine, ich erinnere mich nicht daran, das Gefühl gehabt zu haben, dass etwas Schlimmes geschehen würde.«
    »Denk nach«, sagt er. »Versuch’s.«
    »Und wie soll ich das anstellen? Wie soll ich das versuchen? «
    »Du weißt, wie. Schließ die Augen. Was siehst du?«

19
    Ich bin siebzehn Jahre alt, in der elften Klasse der Highschool. Das weiß ich wegen der Ausgabe von Macbeth von A-Z auf meinem Nachttisch, zweifellos für den Englischunterricht. Die Schülerhilfe ist unangetastet. Mein Gesicht sieht aus, als hätte ich die ganze Nacht nicht geschlafen; meine Haut ist fleckig, meine Augen sind blutunterlaufen und flackern unsicher in ihren Höhlen. Ich sehe schrecklich aus. Ich liege im Bett, habe die Decke bis zum Kinn hochgezogen, starre zur Decke empor und warte darauf, dass die Sonne aufgeht. Als ich schließlich meine Beine aus dem Bett schwinge, nehme ich mir einen langen Moment Zeit, um eine Hand gegen meinen Bauch und die andere gegen meine Stirn zu drücken.

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