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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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dann hält sie inne. Sie blickt zum dunklen Himmel empor und nimmt einen langen, tiefen Atemzug; schaut sich um, um sicherzustellen, dass sie allein ist. Dann marschiert sie, anstatt den Pfad einzuschlagen, der sie vom Friedhof hinunterführt, quer über das Gras und den Hügel hinauf, auf den Bereich des Friedhofs zu, der einem dichten Waldstück am nächsten ist. »Wo will sie hin?«, frage ich.
    Mit einem Mal ist Alex angespannt, als er die Arme vor der Brust verschränkt. »Vermutlich will sie nach Hause.«
    »Nein, sie geht in die andere Richtung.« Ich schicke mich an, ihr zu folgen, aber Alex rührt sich nicht. »Hey«, fordere ich ihn auf. »Komm mit.«
    Er schlingt die Arme fester um sich und schüttelt den Kopf. »Ist schon okay.«
    Ich bleibe stehen, um ihn anzusehen. »Komm schon, Alex! Was ist los?«
    Er blickt zu Boden. »Nichts.«
    Caroline hat die Hügelkuppe jetzt fast erreicht. Sie biegt nach links in einen der schmalen Schotterpfade des Friedhofs ein und geht auf eine kleine Gruppe Grabsteine zu, die unmittelbar vor dem Wald aufragen. Sofort wird mir klar, wo sie hinwill: Sie geht zu Alex’ Grab.
    Aber warum? Sie kannte ihn nicht. Sie ist zwar zu seiner Beerdigung gegangen, genau wie ich, aber das taten auch jede Menge anderer Kids, die ihn nicht kannten. Ich entsinne mich auch nicht, dass sie wegen seines Todes übermäßig betroffen gewesen wäre. Sie waren keine Freunde; offensichtlich verkehrten sie nicht in denselben Kreisen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie einander überhaupt in irgendeiner Form kannten.
    Und doch ist sie hier und kniet mehr als ein Jahr nach seinem Tod an seinem Grab nieder. Ich stehe neben ihr und verfolge verwirrt und fasziniert, wie sie sich vorbeugt und ihre beiden Hände oben auf seinen Grabstein legt. Auf ihren Knien im Gras hockend, senkt sie den Kopf, bis ihre Stirn die Seite des Grabmals berührt.
    So verharrt sie lange Zeit; ihr Körper ist fast vollkommen reglos. Während ich sie beobachte, taucht Alex hinter mir auf. Eine Weile sagt keiner von uns etwas.
    Als Caroline schließlich den Kopf hebt, sehe ich, dass ihre Augen gerötet sind. Die auf ihre Wangen gemalten Buchstaben sind von Tränen verschmiert. Sie schaut sich von neuem um, wie um sicherzugehen, dass sie auch wirklich allein ist.
    »Hi, Alex«, flüstert sie. Ihre Stimme ist so leise, dass ich sie kaum hören kann.
    Alex, der jetzt neben ihr steht, lächelt sie an. Seine Miene ist gütig. Er wirkt wesentlich entspannter als noch vor ein paar Minuten. »Hey, Caroline«, entgegnet er.
    Ich gaffe ihn mit offenem Mund an. »Alex«, forsche ich. »Was ist hier los? Sag es mir.«
    Caroline steht auf. Sie wischt sich mit dem Handrücken die Augen und die Wangen ab, um die gemalten Buchstaben zu unkenntlichen rotweißen Flecken zu verschmieren.
    Alex hält sich einen Finger an die Lippen. »Psst.« Er lächelt sie weiterhin an.
    »Es tut mir so leid«, sagt sie laut. Und als sie ihre Augen fest zusammenpresst, sieht sie aus, als würde sie gleich wieder anfangen zu weinen. »Es tut mir so leid, Alex«, wiederholt sie.
    »Was tut ihr leid?«, frage ich. »Woher kennt ihr beide euch?«
    Alex wirft mir einen flüchtigen Blick zu. »Es ist nichts.«
    »Doch, offensichtlich ist da sehr wohl etwas. Komm schon, Alex. Das ist nicht fair. Bitte, sag’s mir.«
    Er ignoriert mich und beobachtet sie weiter. Caroline neigt ihr Haupt, schließt die Augen und beginnt wieder zu sprechen. Ihre Stimme ist lieblich und sanft, ihre Worte tief bewegend, als sie sie auf dem stummen, verwaisten Friedhof rezitiert.
    »Gegrüßet seiest du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus … Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder. Jetzt und in der Stunde unseres Todes …« Und sie hält inne. »Jetzt und in der Stunde unseres Todes«, wiederholt sie. »Jetzt und in der Stunde unseres Todes. Jetzt und in der Stunde unseres Todes … Amen.«
    Sie öffnet die Augen. »Jetzt ruhe in Frieden«, sagt sie und starrt den Grabstein an. »Ruhe in Frieden.«
    Sie beugt sich vor, um ihre Pompoms aufzuheben. Dann geht sie davon, den Hügel hinunter und auf den Ausgang des Friedhofs zu. Wir beide verfolgen, wie ihre Gestalt vor dem Abendhimmel zunehmend kleiner wird; ihre Schritte sind ohne Hast, als sie sich Reihe um Reihe zwischen den Grabsteinen bewegt. Als sie mein Grab besuchte, war ihr unbehaglich zumute, jedoch nicht, als sie

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