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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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ich hinter mir ein leises Geräusch und drehe mich um. Im hinteren Bereich des Raums befindet sich eine Tür, die einen Spaltbreit offensteht. Von dort kommt das Geräusch.
    Zusammen gehen Alex und ich zu der Tür hinüber und schauen hinein. Der Raum ist klein, kaum größer als ein Kleiderschrank. Abgesehen von einigen Regalen, auf denen sich Videokassetten stapeln, einem alten Fernseher, einem Videorekorder auf einem Klapptisch sowie einem metallenen Klappstuhl ist der Raum leer. Auf dem Stuhl sitzt eine Nonne in mittleren Jahren. Ihre Miene ist gelangweilt; sie hört zu, wie ein kleines Mädchen in einem karierten Trägerkleid das Ave Maria spricht.
    »Wir mussten es auswendig lernen«, erklärt Alex. »Dann rief Schwester Barbara uns in ihr Zimmer, einen nach dem anderen, und wir haben das Gebet für sie aufgesagt.«
    »Oh. Okay.« Ich schaue zu, wie das kleine Mädchen die Kammer verlässt und einige Sekunden später durch einen pummeligen Jungen mit lockigem schwarzem Haar ersetzt wird. »Was hat das denn mit Caroline zu tun?« Wir sind wieder inmitten der Tische voller Kinder, die schweigend darauf warten, dass sie an die Reihe kommen, obwohl der jüngere Alex jetzt nirgends zu sehen ist.
    »Im Gang«, sagt Alex. Er weist auf die Doppeltür, die zur Treppe führt.
    Vor dem Absatz zu der Treppe ist ein dunkler, schmaler Gang mit drei Türen: Eine führt in die Herrentoilette, eine in die Damentoilette, und die dritte ist geschlossen und nicht gekennzeichnet.
    Während wir dort stehen, kommt der kleine Alex aus der Toilette und wischt sich die Hände an seinen Latzhosen ab. Er schaut nach unten, bemerkt, dass sein Schnürsenkel offen ist, und beugt sich vor, um ihn wieder zuzubinden.
    In diesem Moment höre ich etwas. »Horch mal«, sage ich.
    Der kleine Alex vernimmt es ebenfalls und hält mitten beim Schuhezubinden inne. Er sieht auf und zu der unmarkierten Tür hinüber. Und da ist es wieder: ein blechernes, klapperndes Geräusch.
    Ich schaue Alex neben mir an. Er lächelt; mir ist klar, dass er genau weiß, was gleich passieren wird.
    Sein jüngeres Ich geht einige Schritte nach vorn, bis er nah genug ist, um die Tür zu berühren. Zögernd dreht er den Knauf und stößt sie auf.
    Es ist eine Garderobe, und darin steht auf Zehenspitzen die Erstklässlerin Caroline Michaels. Sie bemüht sich, die Arme hoch genug zu strecken, um ihre Jacke aufzuhängen.
    Der jüngere Alex sieht sie an. »Ich dachte, du kommst heute nicht«, sagt er.
    Caroline antwortet nicht. Sie weicht rasch einen Schritt zurück und kracht beinahe gegen ein Regal voller Chorgewänder. Bereits im Alter von sechs oder sieben ist sie wunderschön. Sie ist klein und drahtig; ihre dünnen Arme und Beine ragen aus einer rosa Kragenbluse und einem verwaschenen Jeansrock heraus. Ihr langes Haar ist zu zwei Zöpfen geflochten, deren Spitzen sorgsam gelockt und mit blassrosa Schleifen gebunden sind. Sie starrt Alex an, eindeutig überrascht, ihn zu sehen.
    »Caroline?«, sagt der kleine Alex. »Was machst du da im Schrank?«
    Sie sagt noch immer nichts. Zu ihren Füßen finden sich Hinweise darauf, dass sie schon eine ganze Weile hier ist. Da ist ein offener Rucksack, dessen Inhalt in einem Halbkreis auf dem Boden ausgebreitet ist: eine Barbie-Thermosflasche. Ein Malbuch. Eine fast leere Tüte Käsecracker. Ein Fläschchen Glitzernagellack. Ein halbfertiger Mathe-Arbeitsbogen.
    »Versteckst du dich hier drin?«, forscht Alex. »Warum?«
    Caroline wirkt starr vor Entsetzen. »Ich … Ich … Ich …« Ihre Unterlippe zittert. »Verrat’s keinem.«
    Alex wirft einen raschen Blick hinter sich. Dann zieht er die Tür zu. »Was ist los?«, fragt er, ehrlich interessiert. »Keine Angst. Ich sage zu keinem ein Wort.«
    Caroline senkt den Kopf. »Ich kann nicht in den Unterricht gehen.« Sie beginnt, an einem ihrer lackierten Fingernägel zu knabbern. »Ich habe das Gebet nicht gelernt.«
    Alex sieht aus, als wüsste er nicht, was er tun soll. Er schaut sich hilflos um, wie auf der Suche nach einer Antwort.
    »Hat sie sich die ganze Zeit über da drin versteckt?«, frage ich Alex.
    Er nickt. »Wir kamen alle jeden Freitag direkt aus der Schule, die weniger als einen Block entfernt liegt. Auf dem Weg hierher muss sie sich von allen ferngehalten haben, und dann versteckte sie sich im Schrank, damit ihre Eltern nicht erfahren, dass sie den Unterricht geschwänzt hat.«
    Die beiden sitzen jetzt auf dem Fußboden, ihre Köpfe dicht

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