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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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klärt deinen Verstand. Es beruhigt einen.«
    »Sie ist stundenlang gelaufen, manchmal drei oder vier Stunden am Stück«, fährt Richie fort. »Wussten Sie das? Ich meine, bevor sie starb. Ist Ihnen aufgefallen, wie viel Gewicht sie verloren hat? Sie wurde immer dünner. Hätten Sie nicht irgendwas unternehmen müssen? Sie waren ihr Trainer.«
    Alex mustert meinen Körper. »Jetzt, wo er es erwähnt, Liz, du bist wirklich schrecklich dünn. Ich meine, du bist zu dünn.«
    Ich runzle die Stirn. »Läufer sind immer dünn. Abgesehen davon sagtest du, ich wäre heiß.«
    »Vielleicht ein heißer Schlamassel«, murmelt er. Ich ignoriere ihn und konzentriere mich stattdessen lieber wieder auf das, was im Raum vor sich geht. Richie und Laufen. Nicht in einer Million Jahren hätte ich das von ihm erwartet. Ich habe etliche Male versucht, ihn dazu zu bringen, mich zu begleiten, doch er hatte nie Interesse daran.
    »Beruhige dich, Richie«, sagt Mr. Riley. »Ich weiß das alles. Wir haben darüber gesprochen, glaub mir. Aber ich konnte sie nicht daran hindern, in ihrer Freizeit zu laufen.« Er zögert. »Mir war nicht bewusst, wie fatal die Lage inzwischen geworden war. Doch ich habe versucht, ihr zu helfen. Ende letzten Jahres sagte ich ihr, dass ich sie aus dem Team nehmen würde, wenn sie noch mehr abnimmt.«
    »Das haben Sie getan?« Richie hält inne. »Davon hat sie mir gar nichts erzählt.«
    »Du hast ihm in letzter Zeit generell nicht viel erzählt, oder?«, sagt Alex.
    Ich schnippe gegen sein Ohrläppchen. »Sei still.«
    »Das war gleich nach ihrer Gehirnerschütterung«, sagt Mr. Riley. »Da wurde mir klar, dass sie ernsthafte Probleme hat.«
    Ich drücke meine Handfläche seitlich gegen den Kopf. »Oh … Das stimmt. Daran erinnere ich mich.« Und als ich die Augen schließe, sehe ich es vor mir. Obwohl ich außerhalb meines Körpers bin, stehe ich so dicht neben meinem siebzehnjährigen Selbst, dass ich beinahe fühlen kann, wie es passiert. Ich bin in meinem Elternhaus, am oberen Ende der Treppe, und mache Stretching, das Gesicht dem großen Fenster auf dem Absatz im oberen Flur zugewandt. Ich schaue aufs Wasser hinaus, zur Elizabeth , die hinter unserem Haus am Pier vertäut ist, und zum Strand, der sich in einem anmutigen Bogen vor dem Horizont erstreckt. Ich greife mit meinen Fingerspitzen nach oben und strecke mich auf die Zehenspitzen meiner schmutzigen, aber ausgesprochen bequemen Laufschuhe. Dann beuge ich mich nach vorn, und meine Fingerspitzen berühren leicht den Orientteppich, auf dem ich stehe. In den Mustern des Gewebes sehe ich Weinrot-, Beige-, Waldgrün- und Purpurfarbtöne. Doch dann verliere ich das Gleichgewicht; meine Knie geben nach, und ich wanke einen Schritt zurück, bemüht, auf dem Treppenabsatz Halt zu finden.
    Ich will die Arme nach mir selbst ausstrecken, um das zu verhindern, von dem ich weiß, dass es passieren wird. Doch alles, was ich tun kann, ist zusehen.
    Gerade, als ich denke, ich hätte auf dem Absatz Halt gefunden, trete ich über die Treppenkante. Dann stürze ich. Ich schaue hilflos zu, wie mein Körper zum Fuß der Stufen kullert. Als ich schließlich zum Liegen komme, meine spindeldürre Gestalt auf dem Hartholzboden in der Diele unseres Hauses zusammengekrümmt, bin ich offensichtlich bewusstlos.
    Ich öffne die Augen und sehe Mr. Riley an seinem Schreibtisch sitzen. Ich blinzle und blinzle, versuche, zu der Szene zurückzukehren. Als ich endlich wieder auf eine Erinnerung stoße, wird mir klar, dass ich in der Zeit nach vorn gewandert bin; seit dem Sturz sind jetzt fast zwei Tage vergangen. Ich wurde gerade aus dem Krankenhaus entlassen; das weiß ich, weil ich immer noch mein Plastiknamensarmband trage. Mein Vater hat mich abgeholt. Ich beobachte uns beide, allein zusammen im Wagen, als wir schweigend nach Hause fahren. Ich rede nicht mit meinem Dad. Ich starre bloß nach draußen und betrachte die Landschaft, die am Fenster vorbeizieht.
    Schließlich umfasst mein Dad mit seiner kräftigen Hand meinen Bizeps. Seine Finger schließen sich mühelos um meinen ganzen Arm.
    »Was willst du damit eigentlich erreichen, Elizabeth?«, fragt er. Seine Stimme ist ruhig. So war mein Dad schon immer: gelassen, verständnisvoll, sanftmütig; er behält alles in sich drin, unter der Oberfläche. So war er, als meine Mutter starb. Und sogar, als seine eigene Tochter starb.
    Ich sehe ihn nicht an. Stattdessen starre ich aus dem Wagenfenster und gebe vor, mich auf die Bäume zu

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